«Das Christentum ist eine nahöstliche Religion»
azu brauche es mehr als nur Worte, betont der gebürtige Libanese Henri Aoun im Gespräch mit Livenet. Aoun ist Leiter der christlichen Organisation Agape Media.
Livenet: Beim Besuch der Schweizer Reformierten beklagte der syrisch-orthodoxe Patriarch evangelikale Aktivitäten im Irak. Wie stehen alte Kirchen im Nahen Osten, die Jahrhunderte unter dem Islam gelebt haben, zu jüngeren evangelischen Gemeinden?
Henri Aoun: Nun, nichts ist, historisch gesehen, wirklich neu. Kirchen verbinden oder trennen sich, vereinigen oder spalten sich. Das hat immer zu tun mit Männern des Friedens. Wenn Sie einen Pfarrer oder Priester haben, der wirklich Frieden in seinem Herz hat und dazu das Verlangen, mit Mitchristen in Frieden zu leben, finden sie vielfältige Zusammenarbeit und Gemeinschaft. Niemand redet schlecht über andere. Wenn aber Christen sich mehr um ihre eigene Kirche als um Frieden kümmern, wenn sie den Namen ihrer eigenen Gemeinde erheben und andere kontrollieren wollen, dann kriegen Sie Probleme. Das war früher so und geschieht auch heute. In Ägypten, Syrien, Jordanien und im Libanon gibt es in gewissen Gebieten gute Zusammenarbeit unter den Kirchen, in anderen gar nicht. Nichts ist neu.
Aber in jedem Land haben Gläubige, die alten Kirchen entstammen, sich neuen Gemeinden angeschlossen.
Ja, das passiert da und dort. Leute besuchen eine evangelische Gemeinde, werden berührt von der Weise, wie das Wort Gottes gelehrt wird, und der herzlichen Gemeinschaft der Christen. Sie geniessen das – und bleiben.
Fordern diese Abgänge die alten Kirchen heraus, sich zu wandeln und Gottesdienste alltagsnäher zu gestalten?
In einigen katholischen und orthodoxen Kirchen wird das Wort Gottes heute mehr gelehrt als früher, und es gibt mehr Programme, auch Kinderarbeit und Zusammenarbeit mit anderen Kirchen. Gemeinden kümmern sich vermehrt um Arme und Bedürftige. Dazu hat auch Papst Benedikt XVI. beigetragen, als er die katholischen Bischöfe 2008 anwies, weniger Gewicht auf kirchliche Traditionen und mehr auf die Verkündigung von Gottes Wort zu legen.
Im Nahen Osten stehen der christlichen Botschaft Urteile und Ressentiments entgegen.
Wir haben vor kurzem einen Film über die Bekehrung von Saul von Tarsus gedreht. Sie geschah in Damaskus. Der Film widerlegt den unter Moslems verbreiteten Eindruck, das Christentum komme vom Westen, und wir einheimischen Christen seien mit den jüngsten Missionsaktionen von da in Verbindung zu bringen. Einige westliche Missionswerke haben zudem grosse Sympathie für den Staat Israel. So werden Christen insgesamt als pro-israelisch (=anti-nahöstlich) gesehen.
Wir zeigen mit dem Film das Gegenteil: dass das Christentum hier entstand und eine nahöstliche Religion ist. Von Damaskus, nicht von Orlando oder New York oder Los Angeles ging Paulus aus, um vielen Völkern Jesus zu predigen. Lesen Sie die Bibel. Jeder kann verstehen, dass die Botschaft hier ihren Ausgang nahm.
Worauf sollen Christen achten, wenn sie ihren Glauben mit Moslems teilen?
Bevor wir Christus bezeugen, sollen wir für muslimische Menschen beten. Bete ich für die Menschen, bevor ich mich mit ihnen treffe? Nicht alle Europäer können in die islamische Welt gehen. Aber im Gebet können Sie jeden Tag in die ganze islamische Welt reisen!
Wissen Sie, wie ich meinen Tag beginne? Ich bete zuerst für alle Menschen mit dem Namen Mohammed. Es gereicht jeder moslemischen Familie zur Ehre, wenigstens ein Mitglied mit dem Namen Mohammed, Mehmed, Ahmed oder Hamid zu haben. Und ich bete für jede Frau, die Chadidscha, Zainab oder Fatima (Frauen und Tochter Mohammeds) heisst. Warum? Gebet verändert das Herz von Menschen.
Wenn ich für jemand bete, kann ich nicht anders, als diese Person zu lieben – auch wenn ich einen Konflikt mit ihr gehabt habe. Bete ich für Muslime, finde ich mich als einen, der sie liebt. Ich traf einen Mann mit dem Namen Mohammed – und empfand, dass ich ihn im Gebet schon lange gesucht hatte!
Zuerst das Gebet, dann Liebe – und dann versuche ich weiterzugeben, was ich glaube. Wie lerne ich die Person am besten kennen? Indem ich sie einlade. Moslems in Europa haben 15 Jahre hier gelebt und nie das Haus eines Einheimischen betreten. Jesus sagte zu Zachäus: „Ich muss heute bei dir zu Gast sein.“ Er heilte die Schwiegermutter von Petrus, als er sich in seinem Haus aufhielt.
Heute sollten wir unsere Häuser für Menschen öffnen, mit denen wir den Glauben teilen wollen. Nun werden Sie sagen, dass Sie nicht jeden Moslem von der Strasse einladen können. Aber wenn Sie ihn treffen und kennenlernen, können Sie ihn in ein Restaurant einladen. Und wenn es sich ergibt, ein andermal zu sich nach Hause.
Datum: 12.10.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch