Religion in der Schweiz

Mit guten Gründen glauben

Der Glaube ist heute zunehmend Sache der persönlichen Wahl. Im Schweizer Mittelland und Teilen des Berggebiets stehen verschiedene christliche Kirchen zur Wahl, dazu eine Menge weltanschaulicher und (pseudo-)religiöser Angebote. Die Kirchen sind herausgefordert, Überzeugungen zu stärken.
„Im Westen keine Rückkehr der Religion“: Jörg Stolz.

Gott ist Liebe – und er kommt in die Nähe! Die Gute Nachricht, die Jesus von Nazareth vor bald 2000 Jahren in die Welt setzte, hat weiter unabsehbare Wirkungen. Infolge der Modernisierung der Gesellschaften, die in Europa begann und nun die meisten Länder ergreift, schrumpfen jedoch in unseren Breitengraden die Kirchen. Der Lausanner Religionssoziologe Jörg Stolz glaubt mit vielen Vertretern seiner Zunft an einen unumkehrbaren Vorgang. «Auf der Ebene der faktisch gelebten Religiosität in den westlichen Industrieländern gibt es keine Rückkehr der Religion», sagte er gegenüber dem Tages-Anzeiger.

Moderne: Religion weniger wichtig

Den Daten des «World Value Survey» ist entnommen worden, dass zwar nach wie vor neun von zehn US-Amerikanern an Gott glauben, dass dieser Glaube aber in der Schweiz seit 1968 unter 80 Prozent gesunken ist, in Grossbritannien und Frankreich auf 60 Prozent und in Schweden unter 50 Prozent. Jörg Stolz: «Wir sehen eine rasante Säkularisierung, einen rasanten Niedergang der Wichtigkeit von Religion im Leben der Menschen.» Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Kirchen auf dem Sinn- und Heilsmarkt von zahlreichen säkularen Anbietern konkurriert werden. Stolz hat in seinem Buch «Die Zukunft der Reformierten» darauf hingewiesen.

So oder anders

Herr und Frau Schweizer haben tatsächlich die Wahl – oft eine verwirrende Vielfalt von Optionen: Sie können ihr Kind taufen lassen und christlich erziehen; sie können es auch unter esoterischen Gesichtspunkten aufwachsen lassen oder mit Leistungssport oder akademischen Herausforderungen auf Erfolg trimmen. Die Werte fürs Leben werden von verschiedenen Instanzen angeboten. In Krisen stehen Therapeuten und Berater, Gurus und Astrologen zur Verfügung – wie die Seelsorger der Kirchen.

Damit die Kirchen in der Konkurrenz Kirchen bleiben und nicht (noch mehr) zu Sinn- und Ritualdienstleistern mutieren, haben sie evangelische Gemeinschaft zu pflegen und ihr Profil zu schärfen. Vieldeutige, profillose Vielfalt zahlt sich immer weniger aus. Dies hat der neue Ratspräsident des Kirchenbundes Gottfried Locher unterstrichen. Jörg Stolz: «Wenn man zu liberal wird, wird die Grenze der Religion zur Umwelt so unklar, dass die Religion in der Tat verschwindet.» Eine Kirche, die vieles offen lässt und sich durch ihre Lehre und das gemeinsame Leben der Mitglieder nicht abhebt, wird kaum mehr wahrgenommen. 

«Den Leuten gute Gründe geben»

Die Reformierten, deren Zukunftsdebatte Stolz mit seinem Buch kräftig angeregt hat, unterscheiden sich mit ihrem Pluralismus wenig von Gesellschaft. Daher produzierten sie, so der Lausanner Soziologe, weder negative noch positive Schlagzeilen. «Und das wird zum Problem in einer Zeit, in der Religionszugehörigkeit immer mehr als Wahl verstanden wird. Wenn man keinen guten Grund sieht, einer Konfession anzugehören, tritt man aus. Hier müssen die Kirchen den Leuten gute Gründe geben.» Gründe für ein überzeugtes Christsein, das den Nächsten, der Not leidet, nicht übersieht, aber über den Tellerrand der kleinräumigen Schweizer Gesellschaft hinausblickt.

Überzeugtes Christsein hat zu tun mit der Freude, dass Gott sich uns Menschen in Jesus geschenkt und uns mit sich versöhnt hat. Es darf sich durchaus von dem inspirieren lassen, was in der weltweiten Gemeinschaft der Christen abgeht. Sie ist das stärkste Netz sozial engagierter Menschen.

Zitat zum Thema:
«Wenn die christlichen Kirchen nicht den Heiligen Geist wiedergewinnen können, der die frühere Kirche beseelte, so wird sie ihre Glaubwürdigkeit verlieren und abgetan werden als ein für das 20. Jahrhundert bedeutungsloser geselliger Verein.» (Martin Luther King, amerikanischer Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger, 1929 – 1968)

Datum: 04.03.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Werbung
Livenet Service
Werbung