Ein Tag im September
Karen James war in der Nacht vom 4. auf den 5. September 1972 zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sie stand am Zaun zum olympischen Dorf in München, als die Terroristen darüber kletterten. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, die Geschichte zu drehen, ihre eigene Geschichte und ein bisschen auch die Weltgeschichte. Aber sie hat niemanden gerufen, sie hat niemanden informiert. Sie hat kein Wort gesagt.
«Okay, klettern wir drüber»
Karen James war damals 19 Jahre alt und Schwimmerin der kanadischen Olympiamannschaft. Sie hatte nach einem Mannschaftssieg der Kanadier noch mit drei anderen in der Stadt gefeiert. Im Morgengrauen kamen sie zum olympischen Dorf, an den Sicherheitszaun. Sie hätten auch den offiziellen Eingang benutzen können, aber der war auf der anderen Seite, ein paar hundert Meter entfernt. Der Zaun war nicht sehr hoch, er würde kein Hindernis sein für trainierte Sportler wie sie. Einer ihrer Schwimmer-Kollegen flüsterte: Okay, klettern wir drüber.
Karen James erzählt rückblickend: «Ich schaute auf den Zaun, und ich spürte zugleich, dass hinter uns diese Männer waren, vier Männer. Sie hatten Trainingsanzüge an, aber sie sahen nicht wie Athleten aus. Sie sagten nichts, ich erinnere mich jedenfalls nicht daran, dass sie etwas sagten. Wir kletterten über den Zaun, und sie folgten uns. Haben wir sie dadurch nicht ermutigt, über den Zaun zu klettern? Also, wir kletterten gemeinsam über den Zaun. Wir gaben ihnen Geleitschutz. Wir schirmten sie ab.»
Entscheidender als das, was passierte, ist das, was nicht passierte. Karen James hat nicht den Sicherheitsdienst alarmiert, und sie hat sich bei den Männern nicht erkundigt, was sie da wollen, wer sie sind. Sie hätte laut rufen oder leise fragen können. Sie hatte ja dieses warnende Gefühl, als sie diese Männer sah. – Warum sie nichts getan hat? Es ist die Frage ihres Lebens, eine Frage, die viele weitere Fragen hinter sich herzieht: «Wenn ich die Männer angesprochen hätte – wäre ich selbst dann heute noch am Leben? Wenn die Begegnung mit den Männern mich damals umgebracht hätte – wären dann vielleicht andere noch am Leben?»
«Tief im Herzen ...»
Karen James ist kanadische Jüdin. Bei dem Terror-Anschlag der Palästinenser starben damals 11 israelische Sportler im Olympiadorf. Das ist jetzt genau 40 Jahre her. Karen James ist inzwischen 59 Jahre alt, sie hat drei Kinder grossgezogen; mittlerweile ist sie geschieden. Sie lebt noch immer in ihrer Geburtsstadt Vancouver. In einem Interview sagt sie kürzlich: «Tief in meinem Herzen fühle ich mich schuldig. Ich habe den Terroristen über den Zaun geholfen.»
Ein Tag im September. Karen James hätte die Möglichkeit gehabt, die Geschichte zu drehen, ihre eigene Geschichte und ein bisschen auch die Weltgeschichte. Sie hätte nach den Sicherheitsbeamten rufen oder die Männer am Zaun fragen können, was sie eigentlich vorhaben. Dann wäre etwas passiert, – irgendetwas wäre passiert. Aber sie hat niemanden gerufen, und sie hat niemanden gefragt. Sie hat kein Wort gesagt. Und das verzeiht sie sich nicht.
Dr. Reinhard Frische ist Pfarrer der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Brig.
Zum Thema:
Dossier «Vergebung»
Datum: 10.09.2012
Autor: Reinhard Frische
Quelle: Livenet