Strassburg zum zweiten

Kruzifixe in Schulen doch zulässig

Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern sind doch zulässig. Eine Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg hat am 18. März 2011 eine gegenteilige Entscheidung aus erster Instanz aufgehoben.
Kruzifixe in Schulen doch zulässig

Die Entscheidung, Kruzifixe in Klassenzimmern anzubringen, fällt nach Einschätzung des Menschenrechtsgerichtshofs in den Ermessensspielraum der jeweiligen Europarats-Mitgliedstaaten. Unter ihnen gebe es in der Frage der Präsenz religiöser Symbole in staatlichen Schulen keine Übereinstimmung, so die Strassburger Richter.

Im November 2009 hatte eine aus sieben Richtern bestehende Kammer des Menschenrechtsgerichtshofs einstimmig einer finnischen Klägerin Recht gegeben, die sich gegen Kreuze in öffentlichen Schulen in Italien gewandt hatte. Sie war beim obersten italienischen Verwaltungsgericht abgeblitzt. Der Staatsrat entschied 2006, das Kreuz sei zu einem Symbol für die Werte Italiens geworden. Das gegenläufige Urteil aus Strassburg sorgte über Italien hinaus und bei der katholischen Kirche für erhebliche Kritik. Die Regierung Berlusconi erhob Einspruch.

Schweizer Richter für strikte Neutralität

Über das Urteil hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ungewöhnlich lange beraten. Bereits im Juni 2010 hatte eine mündliche Verhandlung der Grossen Kammer zu dem Fall stattgefunden. Die Entscheidung der Grossen Kammer unter Leitung von Menschenrechtsgerichtshofs-Präsident Jean-Paul Costa erging mit 15 gegen 2 Stimmen. Der Schweizer Richter Giorgio Malinverni äusserte eine abweichende Meinung, der sich die bulgarische Richterin anschloss. Malinverni schreibt, nach seiner Auffassung verlange die Menschenrechtskonvention eine strikte Neutralität des Staates nicht nur für die Lehrpläne, sondern auch für die schulische Umgebung. Der Staat dürfe den Schülern daher keine Symbole einer Religion auferlegen, in der sie sich nicht wiederfinden.

Das am Freitag ergangene abschliessende Urteil ist mehr als 30 Seiten lang und erwartungsgemäss differenziert. Die Richter kommen zum Schluss, dass – wie bei anderen gesellschaftlich umstrittenen Fragen auch – die europäischen Staaten ein hohes Mass an Ermessensspielraum haben. Sie hätten daher selbst zu entscheiden, wie sie es mit den Kruzifixen in den Klassen halten wollten. Dabei gebe es unter den 47 Europarats-Mitgliedstaaten unterschiedliche Auffassungen. Ähnlich hatte sich der Menschenrechtsgerichtshof schon in Fragen wie der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, zum Schwangerschaftsabbruch oder zur Sterbehilfe verhalten.

Auch Traditionen müssen überprüft werden

Die Grosse Kammer zieht sich aber nicht nur auf die Warte des blossen Beobachters zurück, der mit der Angelegenheit nichts zu tun hat. Die italienische Argumentationslinie, es handle sich um eine althergebrachte Tradition, und die Kreuze seien ja auch mehr ein Symbol demokratischer und zivilisatorischer Werte, liessen sie nicht gelten. Auch Traditionen hätten sich sehr wohl der Überprüfung auf ihre Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu unterwerfen, stellen sie fest. Und sie betonen, das Kreuz führe zu einer «verstärkten Sichtbarkeit des Christentums in der schulischen Umgebung». Es sei «vor allem ein religiöses Symbol».

Aber: Als «im wesentlichen passives Symbol» stelle das noch keine Indoktrinierung dar, die nach Einschätzung der Strassburger Richter ein Verbot gegen die Menschenrechtskonvention wäre. Es gebe keine Hinweise darauf, dass sich die Behörden gegenüber Schülern anderer Konfessionen intolerant verhielten. Auch sei etwa das Tragen des islamischen Kopftuchs nicht verboten. Schon früher habe der Menschenrechtsgerichtshof festgestellt, dass es zulässig sei, einer Religion im Lehrplan mehr Raum zu geben, weil sie in der Geschichte eines Landes eine dominante Bedeutung habe.

Vatikan zufrieden

Die Entscheidung in Strassburg wurde von Heiligen Stuhl «mit Genugtuung» aufgenommen. Vatikansprecher Federico Lombardi schrieb in einer Stellungnahme, das Urteil erkenne auf höchstem richterlichen und internationalen Niveau an, dass «die Kultur der Menschenrechte nicht in einen Gegensatz zu den religiösen Fundamenten der europäischen Kultur» gebracht werden dürfe, zu der das Christentum einen wesentlichen Beitrag geleistet habe.

Kommentar: Symbol wofür?

Das Strassburger Urteil betrifft eine Kernfrage Europas. Dass die Richter sich anders besonnen haben, ist im Licht der Geschichte unseres Kontinents – und in der Erwartung, dass das Christentum weiterhin wegweisende Beiträge zu seiner Kultur leiste – zu begrüssen.

Das Urteil hat einen föderalistischen Akzent, der auch in den Ohren von Schweizer Minarettgegnern angenehm klingen dürfte: Es wird in Europa nicht alles über einen Leisten geschlagen.

Doch der Entscheid der Grossen Strassburger Kammer darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Europa weitgehend säkularisiert hat. Schon der Sprachgebrauch – dass vom Kruzifix mit dem sächlichen Artikel gesprochen wird – weist auf die Distanz zur angestammten christlichen Religion hin, die sich auch in Südeuropa ausbreitet. «Cruci fixus» heisst: «Der ans Kreuz Geschlagene» und meint den Christus, nicht das Kreuz.

Das katholische Symbol betont die Hinrichtung von Jesus. Damit das Christentum in Europa künftig auflebt, muss er jedoch als der Auferstandene und als der wiederkommende Herr verkündigt werden.

Zum Thema:
Der Gerichtshof für Menschenrechte zum Urteil

Datum: 22.03.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet / Kipa

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