Rote Karte für sexuelle Ausbeutung

Rote Karte für sexuelle Ausbeutung
Tausenden Frauen aus Osteuropa wird eine goldene Zukunft im Westen versprochen. Doch viele von ihnen landen in den Fängen von Zuhältern.
Lea Ackermann

Jana wusste nicht, was sie erwartet. Die junge Weissrussin hatte zwar eingewilligt, ihren Lebensunterhalt mit der Prostitution zu verdienen. Doch wie für viele von Armut und Perspektivlosigkeit getriebene junge Osteuropäerinnen wurde der Trip in den goldenen Westen zum Alptraum.

Die meisten Prostituierten werden jedoch bereits in ihrer Heimat mit falschen Versprechungen gelockt und dann brutal zum Anschaffen gezwungen. Für Menschenhändler winkt besonders bei tourismusträchtigen Grossveranstaltungen wie der WM ein lukratives Geschäft.

Nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes in Deutschland werden drei Viertel der eingeschleusten Frauen gezwungen, ihren Körper zu verkaufen. Im Lagebericht für 2004 verzeichnet die Behörde 972 Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Drei von vier stammen aus Osteuropa, acht Prozent sind minderjährig. Doch das sind nur die polizeilich registrierten Zahlen von Opfern, die bei Razzien befreit wurden. Hilfsorganisationen wie Solwodi ("Solidarity with women in distress") gehen von bis zu 30.000 Zwangsprostituierten allein in Deutschland aus. Laut Uno-Schätzung werden in Europa jährlich rund eine halbe Million Frauen und Mädchen zur Prostitution gezwungen – ein Milliardengeschäft.

Zerstörte Hoffnungen

Barbara Eritt, Leiterin der Berliner Caritas-Beratungsstelle für Zwangsprostituierte, weiss um die zerstörten Hoffnungen unzähliger Frauen: "Oft war die stärkste Motivation: Ich tu's, um meinem Kind eine Ausbildung bezahlen zu können." Nicht selten seien es Bekannte, ja sogar Verwandte, die die jungen Frauen auf den zwielichtigen Weg in den goldenen Westen schickten. "Binnen drei Monaten in Deutschland so viel verdienen, dass die Familie daheim mehr als ein Jahr davon leben kann – das klingt verlockend."

Doch einmal in den Händen der Schleuser und Zuhälter wird den meisten Pass und Geld genommen. Illegal in einem fremden Land, ohne jede Sprachkenntnis: Damit sind sie ihren Peinigern völlig ausgeliefert. "Sechs bis acht Freier täglich, auf Wunsch ohne Kondom, das ist der Alltag im verheissenen Paradies", schildert Eritt. Auf dem Strich findet jede Freiheit ein brutales Ende. Wer zu fliehen sucht, wird geschlagen, vergewaltigt, eingesperrt.

Tausende zwangsweise eingeschleust

Solwodi-Gründerin Schwester Lea Ackermann kennt Hunderte solcher Schicksale, hat die Fälle minutiös dokumentiert. Aus ihrer 20-jährige Erfahrung verlangt sie für die WM besondere Vorkehrungen: "Zu diesem Mega-Event werden Tausende Frauen zwangsweise eingeschleust. Das war auch bei den Olympischen Spielen in Athen der Fall." Eine Befürchtung, die zahlreiche Menschenrechtler, Frauenverbände und Kirchenvertreter teilen. Sie versuchen schon seit Monaten, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen.

Beim Deutschen Fussball-Bund (DFB) brauchte es etwas länger, bis der Ball ins Rollen kam. Erst nach scharfer öffentlicher Kritik hob er die rote Karte gegen Zwangsprostitution. Inzwischen unterstützt der DFB die bundesweite Info-Kampagne des Deutschen Frauenrates gegen sexuelle Ausbeutung. Solwodi hat für das Turnier einen kostenlosen Frauen-Notruf eingerichtet. Gescheitert ist allerdings EU-Justizkommissar Franco Frattini mit seiner Forderung, den Menschenhandel durch schärfere Visa-Regeln zur WM einzudämmen.

Barbara Eritt warnt jedoch vor Übertreibungen: "Da wird von 40.000 Prostituierten während der WM geredet und schnell behauptet, die wären alle verschleppt und gezwungen. Unfug!" Auch das Bundesinnenministerium nennt derartige Schätzungen unseriös. Gleichwohl sei ein Anstieg der Nachfrage an Prostitution und damit auch der Zwangsprostitution zu erwarten, so ein Ministeriums-Sprecher. Eritt ist vor allem verärgert, dass solche Zahlenspiele den falschen Eindruck erweckten, Zwangsprostitution sei nur bei der WM ein Thema.

Duldungs-Status als Zeuginnen

Befreit die Polizei Zwangsprostituierte bei Razzien, übernimmt meist eine Beratungsstelle die weitere Betreuung. Dazu gehören nicht nur soziale und psychologischen Hilfsangebote, sondern auch die Begleitung im Strafprozess gegen die Menschenhändler. Als Zeuginnen erhalten die ehemaligen Zwangsprostituierten einen Duldungs-Status und dürfen nicht abgeschoben werden. Sofern sie zur Aussage bereit sind. Doch nicht einmal jede Zehnte entscheidet sich dafür. Aus Scham und aus Angst vor den Folgen. "Gegen Täter aus dem Milieu der organisierten Kriminalität auszusagen, ist nicht gesund", sagt die Caritas-Mitarbeiterin. Die Frauen fürchten brutale Rache und Verfolgung.

Dschungel von rechtlichen Auflagen

Wer sich für den Prozess entscheidet, muss zunächst warten. Bis zu drei Jahre mitunter. Eine lange Zeit, in der die Frauen zur Untätigkeit verurteilt sind. Eine Arbeitsstelle zu bekommen, ist nahezu unmöglich. Genehmigungen und Geld für Ausbildungsstellen oder Sprachkurse - aussichtslos. "Das ist ein absoluter Skandal, wie soll denn da Integration funktionieren", schimpft Eritt über den Dschungel von rechtlichen Auflagen. "Nach dem Prozess sind die Frauen meist 27, 28 Jahre alt und stehen vor dem absoluten Nichts." Nicht wenige werden von ihren Angehörigen verstossen. Familienschande lautet das Urteil, das Opfer als Täter stigmatisiert.

Von einem Stammkunden freigekauft

Jana entkam der Zwangsprostitution, als ein Stammkunde sie für umgerechnet 12.000 Franken freikaufte. Die beiden sind inzwischen verheiratet. Glücklich, wie die junge Frau sagt. In Lea Ackermanns Buch "Verkauft, versklavt, zum Sex gezwungen" hat Jana ihren Albtraum niedergeschrieben. Über die traumatischen Erlebnisse kann sie mittlerweile offen reden. Nur eines überlegen sie und ihr Mann noch: "Ob wir unserer Tochter irgendwann einmal erzählen, wie wir uns kennen gelernt haben."

Datum: 25.05.2006
Quelle: Kipa

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