Religionspsychologie - das unbekannte Wesen

Der Hauptreferent, Professor Bernhard Grom, München.

In der Klinik SGM für Psychosomatik in Langenthal fand kürzlich ein Tagesseminar statt. Die Vorträge behandelten religionspsychologische Aspekte in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Rund 70 Mediziner, Psychologen und Theologen nahmen daran teil.

Gleich zu Beginn relativierte der Hauptreferent, Professor Bernhard Grom, München, den Stellenwert der Religionspsychologie im deutschen Sprachraum: Man könne sogar von der Religionspsychologie als dem "unbekannten Wesen" sprechen. Es gebe im deutschen Sprachraum zwar einzelne Diplom- und Doktorarbeiten dazu, aber keinen einzigen universitären Lehrstuhl.

Hiesige Psychologieprofessoren würden sich davor fürchten, von ihrer Zunft als unwissenschaftliche Apologeten von Kirche und Glaube zu gelten, sobald sie sich mit Religion befassten. Nach einer Umfrage bei amerikanischen Professorinnen und Professoren seien Psychologen diejenigen Fachvertreter, die sich am seltensten als religiös bezeichnen (nur 33 Prozent), während die Mathematiker und Physiker dies am häufigsten tun (60 und 55 Prozent).

Vielfalt der Theorien

Eine weitere Schwierigkeit bestehe darin, dass die wenigen Interessierten, die religionspsychologisch forschten, nach Theorie und Methode von recht unterschiedlichen Ansätzen ausgingen: „Deshalb sind ihre Ergebnisse oft nicht vergleichbar“, versicherte Grom. Die Vielfalt der Hypothesen und Resultate wirke darum leicht verwirrend und entmutigend.

Grom wies darauf hin, dass nach einer Umfrage von 1999 65 Prozent der Schweizer an den „Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“, und 78 Prozent an „so etwas wie eine höhere Macht“ glauben würden. Nur für 12 Prozent gebe es „keinen Gott“. Von den Europäern, die sich als religiös bezeichnen, versichern 81 Prozent, dass ihnen ihr Glaube „Trost und Kraft“ verleihe.

Obwohl derzeit kaum systematische Motivationsforschung betrieben werde, seien einzelne Motive wie Streben nach Macht und Kontrolle, ein Verlangen nach sozialer Nähe oder einfach eine Neugierde verhältnismässig befriedigend untersucht. Aufgrund eines Überblicks über die bisherige religionspsychologische Forschung erscheine es plausibel, dass wichtige Ausprägungen religiösen Erlebens das Denken und Verhalten der jeweiligen Person bestimmen würden. Die Religiosität eines Menschen dürfe also nicht als Sonderbereich, sondern müsse im Gesamtgefüge von dessen Persönlichkeit angeschaut werden, so Grom.

Komplexes System

Die unterschiedlichen Motive würden die zumeist selektive Art erklären, in der jemand religiöse Anregungen seiner sozialen Umwelt verinnerliche, weiterentwickle und akzentuiere – seine Lieblingsstellen aus der Bibel, Lieblingsgedanken, Lieblings-Kirchenlieder und auch manche Einseitigkeit. Wenn man sich – etwas respektlos – die Religiosität eines Menschen als Kuchen vorstelle, der in verschieden grosse Stücke aufgeschnitten sei, dann könne man sich ja fragen, welches Segment, welchen Anteil am religiösen Erleben, Denken und Verhalten die einzelnen Motive haben und ob überhaupt alle beteiligt seien, so der Vortragende weiter.

Bernhard Grom zählte acht Motive auf: die Bereitschaft zu moralischer Selbstkontrolle; das Kooperative Streben nach Kontrolle bedeutsamer Lebensereignisse; das Passive Streben nach Kontrolle bedeutsamer Lebensereignisse; das verdienst- und gerechtigkeitsorientierte Streben nach Kontrolle bedeutsamer Lebensereignisse; das Streben nach positivem Selbstwertgefühl; die Bereitschaft zu Dank und Verehrung; die Bereitschaft zu prosozialem Empfinden und das Interesse an weltanschaulicher Erkenntnis.

Wie ein Mensch seine Erlebnisse und emotionalen Bedürfnisse reflektiere und sie von Vernunftüberlegungen her überprüfe, das zeichne ihn laut Grom nicht nur im allgemeinen aus, sondern auch in seinem religiösen Leben. Die Unterschiede seien mitunter erheblich, je nachdem ob einer in seinen Vorstellungen nur den bisher genannten überwiegend emotionalen Motiven folge oder ob er sie auch kritisch überdenke und weiterentwickle. Grom ergänzte: „Ein 'fundamentalistisches' Milieu fördert die Bereitschaft zur kritischen Reflexion sicher weniger als ein 'aufgeklärtes'.“

Die aufgeworfenen Fragen würden nur einen winzigen Teil des religionspsychologischen Forschens erfassen: „Wir werden nie ein System konstruieren, das Religiosität in ihrer Komplexität angemessen erfassen kann.“

Religiöse Konflikte bei "Gesunden"

Das Schlussreferat „Religiosität – Handicap und/ oder Bewältigungsstrategie“ wurde von Dr. med. Samuel Pfeifer, Chefarzt der Klinik Sonnenhalde, Riehen, gehalten. Pfeifer ging von der Frage aus: „Was kann man dazu beitragen, dass Religion zu einer Bewältigungsstrategie wird?“ Vor einigen Jahren habe er darüber eine Studie gemacht. Es könne ihr zufolge nicht gesagt werden, ängstliche Leute seien weniger zufrieden. Eindeutig sei, dass der Glaube mehr Lebenszufriedenheit vermittle: „Er kann aber zu Konflikten führen, interessanterweise vor allem bei den Gesunden.“

Umgang mit der Bibel

Samuel Pfeifer stellte zwei Leitlinien vor: Die Bibel müsse man wie eine Apotheke brauchen; „das heisst differenzierte Seelsorge betreiben. Sensible Menschen müssen lernen, diejenigen Bibelstellen zu gebrauchen, von denen sie gestärkt werden. Wenn Religion zur Bewältigung helfen soll, müssen wir differenzieren können und nicht die ganze Apotheke auf einmal brauchen“, betonte Pfeifer.

Wer therapeutisch arbeite, habe es mit Kranken, mit Nöten und Konflikten zu tun. Es seien die Fransen des Teppichs. Von diesem Teppichs her könne man nicht das gesamte Stück übersehen und darum auch nicht wahrnehmen, wieviel Schönes und Unterstützendes es ebenfalls gebe. Die Pracht des christlichen Teppichs lasse sich vom Rand her allenfalls erahnen.

Pfeifer schloss mit einem Zitat von Hans Küng: „Ich plädiere nicht für eine religiöse Psychotherapie oder eine Psychotherapie nur für Religiöse, sondern für eine Therapie, die – unter anderen spezifisch menschlichen Ausdrucksformen – auch das Phänomen Religion ernst nimmt. Ich plädiere für eine Therapie, die im Detail herauszufinden versucht, was die ganz individuelle, oft sehr unorthodoxe und sich im Laufe des Lebens meist stark verändernde 'heart religion' für den Patienten ist, die 'Religion seines Herzens'.“

Datum: 23.09.2002
Autor: Bruno Graber
Quelle: Livenet.ch

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung