Damit die Seele vernarben kann

Ob nach dem Geiseldrama im russischen Beslan ...
... oder nach dem Canyoning-Unglück in der Schweiz: Notfallseelsorger tun not.

Traumatisierte Opfer – schockierte Angehörige. Schlimme Ereignisse nehmen keine Rücksicht auf die Seele der Menschen. Damit die offenen Wunden der Seelen besser verheilen, stehen bei Katastrophen Notfallseelsorger zur Seite.

Im Kanton Bern ist die Notfallseelsorge bereits gesetzlich verankert und kürzlich wurde ein zweitägiger Kongress durchgeführt. Wir hörten uns nach Tagungsschluss vor Ort um und sprachen mit dem OK-Präsidenten, einem Regierungsstatthalter und dem Kongress-Moderatoren.

Daniel Gerber: Die erste Frage dreht sich um ein Ereignis, das nicht in der Schweiz passiert ist – zum Glück nicht in der Schweiz passiert ist – nämlich das tschetschenisch-russische Geiseldrama, bei dem über 330 Menschen getötet wurden. Dort würde man auch Notfallseelsorger brauchen. Wie würden Sie als Fachleute vorgehen? Was für einen Stab würden Sie hinsenden?
Daniel Rudin*: Das wäre eine Aufgabe, bei der wir heillos überfordert wären, weil das Ausmass so gross ist. Unsere Mittel im Kanton Bern sind beschränkt auf 60 Notfallseelsorger. Das Logistische würde sich organisieren lassen. Ein Problem wäre dann die Sprache. Wir hätten nicht die Kapazität, das abzudecken. Bei einem solchen Ereignis bei uns in der Schweiz müssten wir wohl sogar über die Landesgrenze hinausgehen um die Betreuung wahrnehmen zu können.

Angenommen, Sie alle könnten perfekt russisch und Sie wären schon vor Ort. Wie würden Sie in diesem vorherrschenden Chaos vorgehen und den Leuten zu helfen versuchen?
Martin Lerch*:
Eine Chaosphase gibt es immer. Sei es beim Massaker in Zug oder dem schrecklichen Tunnelunglück im österreichischen Kapraun. Nach dieser Phase kommt aber ein Notfallseelsorge-Einsatz sehr schnell. Die Opfer haben viele Angehörige, Verwandte, Bekannte, Einsatzkräfte und Behörde, die Hilfe und Betreuung brauchen.

Wer braucht einem?
Michael Dähler*: Da gibt es beide Seiten. Es gibt die Traumatisierten, die befreit wurden und auf der anderen Seite die Familien, die von Todesfällen betroffen sind. Auf beiden Seiten braucht es Betreuungen. In diesem Fall braucht es Hunderte von Seelsorgern, die hier im Einsatz sind.

In der Schweiz passiert so etwas nicht. Folge dessen braucht es auch Euch nicht!
Martin Lerch: Wir wollen nicht überheblich werden und auch hoffen, dass es nicht passiert. Aber wir sind in einer hochtechnisierten Gesellschaft, da sind Katastrophen jederzeit möglich. Von daher bin ich als Statthalter sehr froh, dass es so etwas gibt und so die Leute betreuen kann. Das ist entscheidend wichtig.

Michael Dähler: Wir müssen von diesem Grossereignis in Russland zurückkommen und sehen, dass es auch kleinere gibt, bei denen die Notfallseelsorge sehr wichtig ist. Im Kanton Bern wurden wir durch das Canyoning-Unglück in Interlaken geweckt. Oder das Explosionsunglück in Steffisburg, wo Familien und Nachbarn betroffen sind. Da ist die Notfallseelsorge sofort gefordert und auch auf Platz. Darum existiert mittlerweile auch die Zusammenarbeit zwischen uns und der Polizei, Zivilschutz, Sanität und so weiter.

Daniel Rudin: Wir haben im Kanton Bern während 365 Tagen und 24 Stunden einen Pikettdienst und wir haben pro Woche zwei Einsätze wo ein Notfallseelsorger gerufen wird und ausrücken müssen.

Wie sieht das in den anderen Kantonen aus?
Der Kanton Zug hat zum Beispiel ein «Care Team». Man muss auch nicht immer von den grossen Ereignissen sprechen. Ich denke da an den fürsorgerischen Freiheitsentzug. Wenn Leute zwangsweise in Kliniken eingewiesen werden müssen, weil sie – auf berndeutsch gesagt – «durchdrehen», ausrasten. Das kann zu traumatischen Erlebnisse für Angehörige und Behörden kommen, weil Drohungen ausgesprochen werden, oder im Extremfall geschossen wird. Wir hatten ja verschiedene Ereignisse in den letzten Monaten in der Schweiz. Ich denke an die Vorfälle in Lenk, Eschholzmatt oder in Zürich. Das kann überall passieren. Da sind wir froh, wenn wir rasch die Notfallseelsorger haben.

Braucht es immer mehr oder ist die Nachfrage gleich geblieben?
Michael Dähler: Es war früher weniger organisiert. Man wendete sich zum Beispiel an den Ortspfarrer. Heute gibt es für Notfallseelsorger eine spezielle Ausbildung betreffend den Bedürfnissen und Zusammenarbeit. Heute weiss die Polizei, dass wir auf Platz sind und wo sich die Menschen aufhalten, die unsere Betreuung brauchen. Das hilft in einer Katastrophe enorm, während es früher auf Zufall basierte. Heute wo weniger familiäre Netze da sind, die in einer Katastrophe tragen helfen, ist unsere Betreuung wichtiger geworden.

Martin Lerch: Unsere Gesellschaft hat sich rasant verändert und ändert sich weiterhin. Stichwort: Verindividualisierung. Kleinfamilien, Einpersonenhaushalte und damit verbundene Vereinsamung. Ehescheidungsrate die gegen 50 Prozent hoch tendiert. Das sind alles gesellschaftliche Phänomene die Auswirkungen haben. Die sozialen Netze sind nicht mehr so eng geknüpft und tragen nicht mehr so gut. Darum braucht es ein Ersatznetz. Ich habe mit fürsorgerlichem Freiheitsentzug und Krisenbewältigung zu tun und sehe dabei, dass es das immer mehr braucht. Darum bin ich froh, dass der Kanton Bern hier eine Pionierrolle übernommen hat und eine erfreulich grosse Anzahl ausgebildete Personen zur Verfügung stehen und dass der Pikettdienst existiert, dass man jederzeit auf diese Hilfe zurückgreifen kann.

Pionierrolle? Inwieweit ist der Kanton Bern den anderen voraus?
Daniel Rudin: Wir sind der erste Kanton, der die Notfallseelsorge gesetzlich als Auftrag verankert hat und dies auch umsetzt. Das ist die Vorreiterrolle. Die anderen Kantone sind sicher nicht schlechter.

Sie haben eine zweitätige Tagung durchgeführt. Was haben Sie gemacht?
Daniel Rudin: Sehr viel zugehört. Und das ist wichtig. Wir konnten von den Erfahrungen von anderen profitieren. Durch viele Beispiele erkannten wir, dass ein solcher Marschhalt wichtig ist, ich war durch die Wortmeldungen und deren Tiefgang beeindruckt. Es geht um Gefühle und Schmerzen. Es bringt alle weiter, die an dieser Thematik arbeiten.

Wie ist die Notfallseelsorge bei einer Katastrophe integriert?
Martin Lerch: Das ist Sache der Einsatzkräfte. Sei dies eine Feuerwehr oder Polizeiorgan oder zivile Behörden vor Ort, die helfen müssen, ein Ereignis zu bewältigen. Nach ihrer Beurteilung können sie auf diese Hilfe, die rund um die Uhr zur Verfügung steht, zurückgreifen.

Meine Erkenntnis aus diesem zweitägigen Anlass ist, dass wir noch näher zusammenarbeiten müssen. Und dass wir einander frühzeitig beiziehen, nicht erst wenn es knallt. Es gibt natürlich Fälle, wo es nicht vermeidbar ist. Es gibt aber viele, bei denen man die Notfallseelsorge frühzeitig einbeziehen und schlimmeres verhindern kann.

Ihr Fazit nach der Tagung?
Michael Dähler: Die Aufmerksam war sehr hoch, besonders wenn es um Erfahrungsberichte ging. Wenn man in solche Fälle hineinsieht und dies reflektieren kann und Korrekturen als Folge erhält, ist dies genau das, was man sich wünscht. Es gab viele Möglichkeiten, sich selber zu positionieren.

Wird sich jetzt etwas ändern – oder muss sich etwas ändern?
Michael Dähler: Es ist nicht die Frage nach einer Veränderung sondern nach einem Prozess. Jeder ist ja in seiner Region eingebunden. Es geht immer wieder um ein Optimieren des Könnens und des Wissens. Da half auch dieser Kongress weiter. Auch durch die theoretischen Infos, wie die Prozesse ablaufen – zum Beispiel bei einem fürsorgerlichen Freiheitsentzug. Es ist gut zu wissen, wie die Prozesse ablaufen, wenn man plötzlich als Notfallseelsorger auf der einen oder anderen Seiten beigezogen wird.

Martin Lerch: Enger Zusammenarbeiten ist das eine und die Vertretung der Notfallseelsorge im Verband der Statthalter das andere. Denn all diese Dinge sind noch nicht allen bekannt und die Regierungsstatthalter haben doch eine wichtige Funktion bei dem fürsorgerlichen Freiheitsentzug aber auch bei der Ereignisbewältigung und Unfällen. Doch genau dort kommt es zum Tragen und darum ist es wichtig, dass man davon weiss und gut zusammenarbeiten kann.

Michael Dähler: Pfarrer und Moderator am Notfallseelsorgekongress 2004.
Martin Lerch: Fürsprecher und Regierungsstatthalter des Amtes Aarwangen.
Daniel Rudin: OK-Präsident des Notfallseelsorgekongress 2004.

Datum: 30.09.2004
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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