„Spiritualität schenkt ein erfülltes Leben“

Ruhe
Stille
Fenster
Schöpfung
Meditation
Professor Peter Zimmerling erlebt Gott mit Körper, Seele und Geist

Spiritualität ist ein echter Megatrend. Wir Menschen sehnen uns nach Orten und Zeiten der Ruhe, nach dauerhafter Geborgenheit, nach heilsamen Erfahrungen und sinnvollem Leben. Eine lebendige Beziehung zum Schöpfer schenkt auch Gelassenheit für den Alltag, sagt der Leipziger Professor für Seelsorge Peter Zimmerling.

Herr Professor Zimmerling, haben Sie heute morgen schon mit Gott gesprochen?
Ja, das habe ich. Ich habe mir angewöhnt, am Morgen immer ein ausgewähltes Bibelwort für jeden Tag zu lesen und das zu meditieren. Oft schreibe mir dann meine Gedanken dazu auf. Und im Anschluss bete ich. Für den Tag und was bevorsteht. Ganz wichtig ist mir auch, für andere Menschen zu beten.

Sie haben mit Gott geredet, hat er auch geantwortet?
Ich habe das so empfunden. Besonders durch dieses Bibelwort, was ich las. Da war die Rede davon, dass den Elenden gute Botschaft zuteil werden wird und dass die Gefangenen frei werden. Das habe ich auch als persönliche Ermutigung verstanden. Dass Gott es gut meint und mich an diesem Tag begleiten wird.

Fühlen Sie auch etwas, wenn Sie beten? Kann man Gott spüren?
Das kann man. Aber ich würde das nicht zur Regel erheben. Ich bete so, wie ich mir morgens die Zähne putze oder eine schöne Tasse Kaffee trinke. Das gehört zu meinem Tagesablauf dazu, weil es gut für mich und andere Menschen ist. Manchmal überwiegt mehr der Aspekt, dass es nötig und gesund ist wie das Zähneputzen, aber oft steht auch der Genuss im Vordergrund, wie bei einer Tasse Kaffee. Da passiert es auch immer wieder, dass ich den Eindruck habe, dass Gott mir nahe ist. Ich vermisse wirklich etwas, wenn ich mir diese Zeit der Sammlung und Stille am Morgen nicht gönne.

Bewirken Ihre Gebete auch etwas?
Sicher. Zum Beispiel habe ich mich schon oft gewundert, wie sich die Beziehung zu einem anderen Menschen verändert durch Gebet. Manchmal erfährt man Ablehnung oder spürt starke Distanz, wenn man jemanden kennen lernt, und es ist fast ein Wundermittel, wenn man anfängt, für solche Menschen zu beten. Da habe ich noch immer erlebt, dass sich in der Beziehung etwas verändert.

Sie sagen, sie reden mit Gott. Wer ist denn Gott für Sie?
Gott ist für mich anschaulich und fassbar in seinem Sohn Jesus. Meine Spiritualität ist stark geprägt von Jesu Leben, wie er sich anderen Menschen gezeigt hat, wie er mit ihnen umgegangen ist, auch von seinem Leiden und Sterben. Und natürlich von seiner Auferstehung, die eine unglaubliche Hoffnung gibt.

Und Sie beten auch zu Jesus.
Ja, zu Jesus bete ich eigentlich primär. Manchmal auch in seinem Namen zu Gott, dem Vater. Aber es ist ja der gleiche Gott, der sich auf unterschiedliche Weise offenbart. Ich weiß, dass das für viele Menschen nicht so nachvollziehbar ist, dass sie da noch auf der Suche sind oder sich nicht so festlegen möchten. Aber ich habe schon als Jugendlicher erlebt, wie befreiend es ist, aus so einer ungewissen, diffusen Religiosität mit einem unklaren Gottesbild zu einem bewussten Glauben an den Erlöser zu finden.

Sie haben ein Buch über Spiritualität geschrieben. Was ist Spiritualität für Sie?
Das Wort kommt von „Spiritus“, dem Geist Gottes. Für mich hat das viel mit einem ganzheitlich gelebten Glauben zu tun. Spiritualität verbindet unterschiedliche Aspekte: Die Basis ist der Glaube, dass Gott uns in Jesus ohne Vorleistungen annimmt und sich nach uns sehnt. Das entfaltet sich auch in Glaubensübungen, wie ich das zum Beispiel heute morgen in meinem Gebet und der Meditation praktiziert habe. Aber auch im Blick auf das Engagement für meine Mitmenschen.

Spiritualität kann aber auch weit mehr bedeuten als nur christlichen Glauben.
Ja. Aber insgesamt ist dieser breite Trend in der Gesellschaft eine Chance, dass Menschen wieder nach dem Übernatürlichen und der Ewigkeit fragen. Die platte Diesseitigkeit, die wir noch in den sechziger Jahren hatten, ist nicht mehr tonangebend. Spiritualität ist ein echter Megatrend.

Gibt es auch eine ungesunde, lebensfeindliche Spiritualität?
Auf jeden Fall. Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Spiritualität. Denken Sie nur an die ganze Kommerzialisierung dieses Trends auf dem Esoterikmarkt. Da wird den Menschen das Geld aus der Tasche gezogen. Viele Formen von Spiritualität schaden Menschen psychisch und körperlich. Nicht alles, was wir spirituell empfangen, ist gut. Es gibt auch eine spirituelle Macht der Dunkelheit.

Was unterscheidet christliche Spiritualität von Esoterik?
Wir finden in der Esoterik wie im Christentum die Sehnsucht nach einer unsichtbaren Wirklichkeit. Aber dann stellt sich natürlich die Frage, was man sich unter dieser Wirklichkeit vorzustellen hat. In der christlichen Spiritualität stehen Jesus und sein himmlischer Vater, die uns im Heiligen Geist begegnen, im Zentrum. Dadurch bekommt unser spirituelles Gegenüber ein Gesicht, das vertrauenswürdig ist. Bei esoterischer Spiritualität hat man tatsächlich den Eindruck, dass alles und jedes unter diesem Etikett einen Platz findet.

Sie haben den Heiligen Geist erwähnt, wer ist das?
Der Heilige Geist ist Gott, der uns in Bewegung und zum Wachstum bringt. Er will uns in die Weite führen und neue Horizonte auftun. Er will uns an die Hand nehmen und uns Räume unseres Lebens aufschließen, die wir ohne seine Hilfe nicht betreten könnten. Und er weitet unseren Blick auch für andere Menschen. Er macht uns wirklich liebesfähig.

Wie erfährt man diesen Geist?
Ganz einfach, indem man Gott darum bittet. Das Gebet im Namen Jesu ist die Einlasskarte. Wie man ihn dann konkret im Alltag erlebt, das ist sehr unterschiedlich und immer wieder spannend und überraschend. Er gibt uns Kraft und Trost und hilft uns, wach und neugierig auf das Leben zu bleiben. Der Heilige Geist lehrt uns, unsere Begabungen auch für andere einzusetzen. Und er schenkt uns die Sehnsucht, dass auch andere Menschen diese Erfahrung mit ihm machen können.

Schenkt der Heilige Geist auch heute noch Visionen oder Heilungen?
Auf jeden Fall. Er kann auf diese Weise wirken. Auch in den ersten christlichen Gemeinden gab es diese Phänomene. Sie sollten nur nicht zum Selbstzweck werden, und das Zentrum des Glaubens verdecken. Der Geist Gottes wirkt durch unspektakuläre Begabungen ebenso wie durch solche geheimnisvollen, wundersamen Dinge. Was nutzen ihnen aber die schönsten Träume, wenn Sie sich nicht in Liebe um ihre Mitmenschen kümmern.

Fernöstliche Meditationen wollen dazu anleiten, das Göttliche im Menschen zu entdecken.
Das Christentum unterscheidet hier deutlich zwischen Gott und Mensch. Nur in Christus ist Gott Mensch geworden. Aber wenn wir Gott in unser Leben einladen, wird der Mensch zum Tempel Gottes, wie die Bibel das beschreibt. Anders ausgedrückt: Durch Christus können wir heute eine geistliche Neugeburt erleben und sind dadurch mit ihm verbunden. Und auf diesen „Christus in uns“ dürfen wir dann vertrauen. Menschen sind als Ebenbilder Gottes erschaffen und haben eine unermessliche Würde in den Augen des Schöpfers. Das Grundproblem der Menschheit ist aber immer wieder, dass der Mensch selbst sein will wie Gott. Er setzt sich auf den Thron und strebt nach Unendlichkeit. Der Mensch ist jedoch nicht von sich aus göttlich, sondern ein Geschöpf. Und es ist heilsam, sich das einzugestehen, sonst wird ein Mensch anmaßend und unerträglich. Er macht sich zum „Übermenschen“.

„Wellness“ und „Ganzheitlichkeit“ sind gefragt: Bietet der christliche Glaube auch Erfahrungen, die Körper und Geist mit einbeziehen?
Ja. Der christliche Glaube stammt aus dem Judentum. Der alte Orient kennt diese griechische Trennung zwischen Körper, Seele und Geist so gar nicht. Im Alten Testament loben die Menschen Gott zum Beispiel in den verschiedensten Körperhaltungen, da tanzen sie und klatschen sie oder werfen sich vor ihm auf den Boden. Der Körper wird nicht herabgesetzt wie in der griechischen Philosophie, die uns stark geprägt hat. Und Psychologen sagen uns heute auch, dass dieses ganzheitliche Denken gesund ist. Der Heilige Geist ist ein heilsamer Geist. Eine gesunde Seele und die Beziehung zu ihm haben oft genug auch heilende Auswirkungen auf den Körper.

Gibt es auch Körperübungen, die christliche Meditation beinhalten?
Über viele Jahrhunderte hat die Meditation ja ganz selbstverständlich zur christlichen Spiritualität gehört. Sie wurde das ganze Mittelalter über in den Klöstern gepflegt. Auch Luther betrachtete die Meditation als wesentliches Kennzeichen eines Christen. Dazu gehörten auch bestimmte Körperhaltungen. Man hat immer gewusst, dass durch eine bestimmte Körperhaltung – zum Beispiel im Knien oder Stehen mit geöffneten erhobenen Händen oder auch durch bewusste Atmung die Konzentration unterstützt wird. Das ist in Vergessenheit geraten und kommt uns langsam wieder ins Bewusstsein. Zusätzlich können wir aber auch gymnastische Übungen oder Entspannungstraining mit Gebet und Meditation verbinden.

Wie wichtig ist denn Natur für christliche Spiritualität.
In den biblischen Berichten gehörte der Bezug zur Schöpfung zum Glaubensleben dazu. Auch das entdecken wir langsam wieder neu. Die alten Pilgerwege ziehen heute zum Beipiel wieder viele Menschen an. Denken Sie nur an den Jakobsweg in Südfrankreich und Spanien. Er führt durch Stille und wunderbare Natur. Auf der Reise bekommt man zusätzlich geistliche Impulse durch christliche Kunst und sakrale Bauwerke am Weg, durch Gespräche mit den anderen Pilgern oder durch Meditationen über Bibelworte. Aber auch im ganz normalen Alltag lässt sich ein Waldspaziergang oder Jogging mit geistlichem Zwiegespräch verbinden.

Wie kann denn jemand ohne Vorkenntnisse und Kirchenbezug erste Erfahrungen mit christlicher Spiritualität machen?
Da gibt es viele Möglichkeiten. Zum Beispiel über einfache christliche Meditationsübungen. Die man kann alleine ausprobieren oder angeleitet in Kirchen und Einkehrhäusern. Das wäre ein Einstieg, wo man einfach mal zur Ruhe findet in unserer lärmenden Umwelt und sich auf sich selbst besinnen kann. Und natürlich ist das zentrale Mittel der Spiritualität das Gebet. Nehmen Sie sich einfach eine kurze Zeit am Tag, in der Sie mal für zehn Minuten still werden. Sprechen Sie dann vielleicht ein vorformuliertes Gebet wie das Vaterunser in die Stille hinein – und vielleicht kommen ihnen danach eigene Gedanken und Sie reden einfach ganz persönlich mit Gott.

Immer mehr gestresste Menschen gehen für eine Zeit ins Kloster um zur Ruhe zu kommen.
Ja. Es gibt auch evangelische Einkehrhäuser und Kommunitäten, wo man mal eine Zeitlang mitleben kann. Schon einige Tage in so einer Atmosphäre können einen ganz neu mit Gott in Berührung bringen. Das ist meist ein sehr freier Rahmen. Man findet zur Stille und nimmt vielleicht an einige geistlichen Angeboten teil. Es stehen auch Ansprechpartner für Gespräche zur Verfügung.

Wie finden Sie selbst als langjähriger Christ zu einer tieferen, lebendigen Spiritualität?
Zum einen finde ich in der Bibel immer wieder neue Impulse. Aber auch die Begegnung mit anderen Frömmigkeitsstilen kann zu einem lebendigeren geistlichen Leben führen. Ich nutze den Neuheitseffekt des Unbekannten. Zum Beispiel habe ich in der orthodoxen Kirche Russlands tiefe Erfahrungen gemacht. Aber auch im näheren Umfeld kann jeder von uns christliche Angebote oder Traditionen kennen lernen, die er so noch nicht entdeckt hat.

Was hilft uns, die Balance zu halten zwischen Einkehr und Stille und dem aktiven Alltag?
Da sind Christen in der Kirchengeschichte immer auf der einen oder anderen Seite vom Pferd gefallen. Auch heute noch betont unsere evangelische Kirche zum Beispiel sehr stark das tätige Engagement. Die charismatischen Christen betonen sehr die Erfahrung des Heiligen Geistes. Und die eher pietistischen Gruppen rücken die biblische Lehre in den Mittelpunkt. Aber alles ist wichtig und ich hoffe, dass hier die christlichen Gemeinden weiter voneinander lernen und in einer ausgewogenen Weise Anleitungen fürs Glaubensleben vermitteln. Insgesamt glaube ich aber, dass die persönliche Stille vor Gott unsere Basis für einen dynamischen Alltag ist.

Was nutzt es einem Menschen, wenn er christliche Spiritualität pflegt?
Wenn unsere Beziehung zu Gott geklärt ist, haben wir eine sichere Hoffnung, die in der Ewigkeit verankert ist. Dadurch kommt eine heilige Ruhe ins Leben. Man hat ein zufriedeneres Leben, ein Leben mit einer weiten Perspektive, in dem wir Spannungen aushalten können. Dafür lohnt es sich doch, Zeit und Kraft zu investieren und unsere Spiritualität zu pflegen.

Führt christliche Spiritualität in ein erfülltes Leben?
Wenn man erfüllt nicht gleichsetzt mit problemlos – ja. Ich stamme aus einer nichtchristlichen Familie und habe das selbst so erfahren: Der christliche Glaube verleiht dem Leben eine ganz neue Tiefe und Weite.

Interview: Rainer Schacke

Geistliche Übungen für Einsteiger

Fünf Stichworte und fünf Antworten von Professor Peter Zimmerling

Gebet: Hier können Sie alle ihre Anliegen vor Gott aussprechen. Er hat immer ein offenes Ohr. Dazu gehört auch der Dank, dass Gott uns das Leben gegeben hat, uns erhält und uns versorgt. Auch die Fürbitte für andere Menschen ist Teil des Gebets. Gebet kann eine sehr lebendige Zeit sein und zu einem inneren Zwiegespräch werden.

Bibel: Fangen Sie als Einsteiger am besten nicht damit an, die Bibel von vorne bis hinten zu lesen, sondern beginnen Sie mit einem Evangelium. Da lernt man das Leben Jesu kennen und begreift, was eigentlich der Kern des christlichen Glaubens ist. Das ist kurz, das schafft jeder, das ist interessant.

Stille: Dazu gehört ein regelmäßiges Üben. Fangen Sie einmal mit einer Viertelstunde ein bis zwei mal pro Woche an. Auch eine angeleitete Stille in einer christlichen Gruppe (bei der Kirchengemeinde nachfragen) kann helfen, wenn man allein nicht zur Ruhe kommt. Oder eine Einkehrzeit in einem „Haus der Stille“.

Fasten: Das kann eine gute Erfahrung sein, wenn man es einmal für einige Tage in einer Gruppe ausprobiert, wo die entsprechende Anleitung da ist. Fasten als christliche Übung kann neu die Konzentration aufs Wesentliche im Leben richten. Uns wird dann klarer, dass wir auf Gott angewiesen sind und er in den Riss unserer Existenz treten muss.

Feiern: Der Gottesdienst ist ursprünglich die Feier Gottes gewesen. In unseren Kirchen wirkt er leider manchmal wie eine Lehrveranstaltung. Aber es gibt heute auch wieder eine ganze Reihe von Gottesdienstformen, die dieses Feiern in den Mittelpunkt rücken. Wir dürfen uns aneinander und an Gott freuen. Auch Musik und Gesang sind in der christlichen Spiritualität sehr wichtig. In der Gemeinde und in der persönlichen Beziehung zu Gott.

Nächstenliebe: Die Nagelprobe christlicher Spiritualität ist die Liebe zum Nächsten. Dazu gehört, dass ich mir die Nöte und Bedürfnisse meines Nächsten aufs Herz legen lasse. „Tut Gutes jedermann“ ist eine urchristliche Regel. Das beinhaltet auch eine gesellschaftliche Relevanz und den Mund aufzutun für die Stummen. Christliche Spiritualität führt letztlich nicht in eine Weltabgewandtheit sondern macht uns sensibel für die Nöte der Welt.

Professor und Autor
Peter Zimmerling ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig. „Spiritualität ist mein Thema, weil mich die Frage nach Gott von früher Kindheit an nicht losgelassen hat“, sagt der 46-Jährige, der zuvor im Heidelberg und Mannheim gelehrt hat. Unter anderem hat er Bücher über den Herrenhuter Graf Zinzendorf, die charismatischen Bewegungen und evangelische Spiritualität verfasst. Nach seinem Viktariat war er sieben Jahre lang Pfarrer einer Evangelischen Kommunität in Odenwald.

Rom und Fontane
In seiner Freizeit fährt Zimmerling Ski und liest. Am liebsten Geistliches und Bücher von Theodor Fontane, seinem Lieblingssschriftsteller. „Ausserdem reise ich gerne und schaue mir Gemäldegalerien an. Rom ist meine Liebelingsstadt, wo ich regelmässig zum Arbeiten hinfahre.“

Datum: 23.09.2005
Quelle: Neues Leben

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