„Der Tod ist eine Sekunde weit weg“
Frau Graf, wie lange ist es nun her seit dem Tod Ihres Sohnes?
Es geschah am 14. Oktober 2002. Er war damals 17 einhalb Jahre alt.
Wie kam es zu dem traurigen Ereignis?
Denis wollte sich auf der anderen Seite der Bahngleise etwas besorgen. Weil er Walkman hörte, bemerkte er den heranfahrenden Schnellzug nicht. Die Medien berichteten zuerst, dass es Selbstmord war. Die Polizei und der herbeigerufene Arzt versicherten uns jedoch später, dass es ein Unfall war. Ein Journalist und Bekannter von uns stellte das durch einen Zeitungsbericht auch klar.
Wie veränderte sich Ihr Leben nach dieser Schreckensnachricht?
Das Leben hat sich auf jeden Fall geändert. Denis war ein toller Sohn. Sein Tod brachte mir die Ewigkeit näher, das Fenster zum Himmel ging auf.
Und wie gestaltete sich der Alltag danach?
In der ersten Zeit steht man neben sich. Man fragt sich Dinge wie: Warum muss ich mich noch ums Essen kümmern? Kochen, Einkaufen und all die täglichen Aufgaben erscheinen einem plötzlich so nebensächlich, und ich fragte mich: Geht mich das wirklich noch etwas an, muss ich mich wirklich noch darum kümmern? Es erscheint wie ein unrealistischer Gedanke. Obwohl äusserlich alles weiterläuft, bleibt durch den Schock innerlich alles stehen.
Wie hat das Umfeld auf den Tod Ihres Sohnes reagiert?
Alle waren enorm betroffen. Denis war sehr beliebt und hatte einen guten Zugang zu den Menschen. Die Bereitschaft der Leute, auf uns zuzukommen und mitzuleiden, war sehr hilfreich und hat uns geholfen mit all dem Schweren besser umzugehen.
Wünscht man sich in so einem Moment nicht einfach in Ruhe gelassen zu werden?
Familienintern hat die Situation jeder anders gemeistert. Ich als Mutter war so froh, darüber reden zu können. Der eigene Sohn geht gesund fort und kommt nicht wieder heim - nicht darüber zu sprechen, wäre eine Katastrophe gewesen. Es half mir beim Erfassen des Ereignisses und war meine Art des Abschiednehmens. Aber ein anderer Sohn flüchtete bei den vielen Besuchen bei uns Zuhause. Es wurde ihm zuviel. Er konnte es nicht ertragen, immer wieder alles von vorne zu erzählen.
Wieviel von diesem Schmerz ist heute noch vorhanden?
Denis hat eine Lücke hinterlassen, die kein anderer Mensch füllen kann. Damit müssen wir lernen zu leben. Jeder Mensch ist einzigartig und kostbar, und niemand kann ihn ersetzen. Dennoch muss man versuchen, nicht ins Loch zu fallen. Im Schmerz zu versinken ist sehr gefährlich.
Wie gelang es Ihnen das eigene Leben nicht aufzugeben?
Gott vertraute mir diese Kinder an, und ich habe noch zwei weitere Söhne zu betreuen. Wäre meine Aufgabe vorbei, hätte er mich bereits zu sich geholt. Ich begriff, dass der Tod nur eine Sekunde weit weg ist. Gott hat sie uns geliehen als eine Aufgabe, und eines dieser Kinder hat er wieder früher heimgeholt.
Mir wurde im Leid bewusst, ich kann Gottes Wege oft nicht verstehen, aber ich kann und will ihm vertrauen. Gott hat einen guten Plan, und daran halte ich mich fest.
Auf der Trauerkarte und auf Denis' Grabstein haben wir folgenden Bibelvers aufgeschrieben: „Denn ich weiss wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: "Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet." Jeremia 29,11
Im Jahr von Denis` Tod war die Jahreslosung: „Ja, Gott ist meine Rettung, ihm will ich vertrauen und niemals verzagen" (Jesaja 12,2). Wenn ich am Morgen aufstand und mir immer wieder diesen Vers zusprach, durfte und wollte ich ihm vertrauen Solche Worte waren meine Rettungsanker, dass ich nicht im Schmerz versank.
Hegten Sie keinen Groll auf Gott, weil er den Tod von Denis zugelassen hatte?
Sicher hab ich das getan! Ich erinnere mich konkret an einen Vorfall. Ich war alleine zuhause, mein Mann geschäftlich im Ausland, die Söhne unterwegs. Am Abend überkam mich plötzlich eine unbekannte Wutattacke, und ich hätte am liebsten alles Geschirr zerschmettert. Doch dann wurde mir bewusst, das kann nicht der richtige Weg sein.
Was denken Sie, wo Ihr Sohn nun ist?
Ich habe Gott vor der Beerdigung um ein Zeichen, damit ich sicher sein kann, dass er wirklich bei ihm ist,gebeten. Dann ging ich in Denis` Zimmer. Ich weiss noch, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich seine persönlichen Sachen durchstöberte. Ich wusste eigentlich nicht, was ich suchte. Ich wollte einfach in seinem Zimmer sein.
Im Nachttisch fiel mir ein Buch in die Hände. Ganz hinten fand ich darin eine Notiz, auf der Denis im Zusammensein mit einem Pastor im Oktober 2000 geschrieben hatte: „Heute habe ich mein Leben Jesus übergeben." Nun wusste ich, dass ich aufhören kann zu grübeln und ruhig sein darf, denn Denis ist in Gottes Händen.
Herzlichen Dank für das offene Gespräch.
Kathrin Graf ist seit 21 Jahren verheiratet und hat zwei weitere Adoptivsöhne. Sie leitet eine christliche Buchhandlung in Rheinfelden.
Bearbeitung: Livenet.ch
Datum: 18.09.2006
Autor: Monika Breidert
Quelle: Jesus.ch