Herman Van Rompuy

«Kirche speist die europäische Gesellschaft»

EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy zieht sich regelmässig zu Gebet und Besinnung zurück. Er sagt: «Selbst wenn die Kirchen Mitglieder verlieren, speist die christliche Kultur die europäische Gesellschaft.» Religionsgemeinschaften erinnerten täglich daran, dass es jenseits des materiellen Strebens eine spirituelle Dimension gebe, die ein zentrales Merkmal des Menschen sei.
EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy.

Herman Van Rompuy (63) ist seit 2009 der erste ständige Präsident des Europarates. Davor war «Mister EU» unter anderem belgischer Regierungschef und Parlamentspräsident.

Der Katholik und Christdemokrat Van Rompuy studierte Philosophie und Betriebswirtschaftslehre an der Katholischen Universität Löwen und war anschliessend bei der Belgischen Nationalbank und als politischer Berater tätig. Regelmässig zieht er sich zu Exerzitien, also Gebet und Besinnung, in das Kloster Affligem in der flämischen Provinz Brabant zurück.

Daneben veröffentlicht der als asketisch und zurückhaltend geltende Van Rompuy seit 2004 Kurzgedichte in japanischer Versform (Haiku). Auf Deutsch erschien von ihm kürzlich das Sachbuch «Christentum und Moderne - Werte für die Zukunft Europas». Im Gespräch mit dem «Evangelischen Pressedienst» (epd) äusserte sich der EU-Ratspräsident nun über das Christentum in Europa.

epd: Vor zehn Jahren - am 22. April 2001 - haben die Kirchen in Europa - römisch-katholisch, protestantisch und orthodox - die Charta Oecumenica in Strassburg unterzeichnet. Welche Bedeutung hat das Dokument für die europäische Politik?

Herman Van Rompuy: «Die Früchte des ökumenischen Dialogs werden jeden Tag geerntet. Initiativen, wie die von Papst Johannes Paul II. in Assisi im Oktober 1986 oder der Gemeinschaft von Taizé sind wichtig für das Zusammenleben. «Einheit in Vielfalt» ist generell unsere europäische Devise. Die europäische Politik wird gespeist aus derartigen Initiativen, selbst wenn es schwierig einzuschätzen ist in welchem Umfang.»

Die religiöse Landkarte von Europa verändert sich: eine wachsende Zahl Menschen mit nichtchristlichem Glauben kommt hinzu. Zugleich verlieren die christlichen Kirchen Mitglieder. Welche Rolle haben die Religionen in Europa? Was sind Ihre Erwartungen an die Religionsgemeinschaften?

«Europa hat - zweifelsfrei - christliche Wurzeln neben anderen. Wichtige, nichtgläubige Historiker wie etwa Elie Barnavi und Krzysztof Pomian stimmen darin überein. Deshalb denke ich, dass die christliche Kultur, auch wenn die Kirchen Mitglieder verlieren, die europäische Gesellschaft weiterhin speisen wird - die Gesellschaft insgesamt, aber auch die Einzelnen, selbst wenn sie nicht zu einer christlichen Gemeinschaft oder Religionsgemeinschaft gehören.

Überdies haben die Religionsgemeinschaften bei den anstehenden Veränderungen eine wichtige Rolle zu spielen: Sie erinnern die Gesellschaft daran, dass die spirituelle Dimension - also alles, was über das materielle Streben hinausgeht, - ein zentrales Wesensmerkmal des Menschen ist. Religion in diesem Sinn kann auch soziales Kapital wie Zusammenhalt und moralisches Engagement verstärken.

Was Europa aus meiner Sicht zusammenbringt, nicht zusammenhält sind eine Reihe von Werten, die zwar aus dem Christentum stammen, aber heutzutage auch Allgemeingut sind und bei denen «der Andere» im Mittelpunkt steht. Der Kern des Christentums ist die Liebe zu Gott und zu den Menschen. Letzteres kann von vielen in einer Gesellschaft geteilt werden - und daran besteht fürwahr grosse Not.»

Jürgen Habermas hat gerade eine «soziale Bewegung» für Europa vorgeschlagen als Antwort auf demokratische Defizite der EU. Wo sehen Sie Zeichen der Hoffnung?

«Von unseren Identitäten ist Europa diejenige, die am schwächsten ausgeprägt ist. Unser Identitätsgefühl ist etwas, das sich wie konzentrische Kreise um unsere Person legt: Familie, Nachbarschaft, Region, Land und darüber hinaus Europa und die Welt. Es gibt Menschen und Politiker, die denken europäisch, sind Europäer, europäisch gesinnt sind und Befürworter der europäischen Einigung.

Aber diese Gruppe wird kleiner als Folge eines zunehmenden Partikularismus, selbst Egoismus. Das müssen wir intellektuell und moralisch bekämpfen. Europa ist ein «transzendente» Idee, die das individuelle Interesse übersteigt. Noch glaubt daran eine Mehrheit. Das ist ein Zeichen von Hoffnung, aber nichts ist für immer erworben.»

Zum Thema:
Informationen über den christlichen Glauben

Datum: 20.04.2011
Quelle: Epd

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