Warum ausgerechnet ich?

Ist Gott fair?

«Warum ich?», fragte sich Gerald Sittser immer wieder, als er gleich drei seiner engsten Angehörigen bei einem Autounfall verlor: Seine Frau, seine Mutter und seine Tochter starben bei einem frontalen Zusammenstoss, den ein betrunkener Autofahrer verursacht hatte. Einige Zeit später wurde Gerald klar, dass er sich über die falsche Frage den Kopf zerbrach.
Krise
Der Autor: Professor Gerald Sittser

Warum passiert mir so etwas? Wie viele Menschen, die einen schmerzlichen Verlust erlebt haben, stellte auch ich diese Frage oft. Warum musste ausgerechnet meine Familie so ein Schicksalsschlag treffen? Warum ich? Die meisten Menschen wollen ihr Leben komplett kontrollieren. Und bei einem Grossteil der Lebenszeit gelingt das sogar dank der vielen Stützen unserer westlichen Zivilisation: Wir werden gut me­dizinisch versorgt, schulisch ausge­bildet und auf vielerlei Art unterhalten. Auch einen Arbeitsplatz und ein gemüt­liches Zuhause nennen die meisten ihr Eigen. Aber gerade weil wir gewohnt sind, die Fäden in der Hand zu halten, sind wir besonders verletzt und tief ent­täuscht, wenn sie uns aus den Händen gleiten. Verlust entzieht die Kontrolle. Krebs verwüstet, Gewalt zerstört, Schei­dung schmettert nieder, Arbeitslosigkeit frustriert, und Tod wirft zu Boden – meist ohne Vorwarnung. Plötzlich ist man gezwungen, den Grenzen der eige­nen Fähigkeiten direkt ins Auge zu schauen.

Warum nicht ich?

Einmal hörte ich eine Person die Gegenfrage stellen: «Warum nicht ich?» Der Mann stellte diese Frage, nachdem seine Frau an Krebs gestorben war. Dreissig Jahre lang waren sie verhei­ratet, zogen ihre Kinder gross, dienten der Allgemeinheit und genossen viele glückliche Momente zusammen. Weshalb er so lange auf der Sonnenseite leben durfte, konnte er genauso wenig erklä­ren wie die Gründe für den Verlust, den er erfahren hatte. War es sein Verdienst oder seine Wahl, dass er in einer stabi­len Familie aufwuchs? Konnte er bestim­men, wo, wann und von wem er gebo­ren wurde? War er ein besserer Mensch als das Baby, das in einer armen Familie in Bangladesh zur Welt kam? Nein, Vie­les in seinem Leben passierte einfach, ohne dass er erst zustimmen musste. «Warum nicht ich?» Diese Frage ist genauso gut wie alle anderen. Dieser Mann schaute über seinen Tellerrand hinaus und betrachtete sei­nen Verlust im Licht der globalen Ereignisse. Die ehemalige Sowjetunion verlor nahezu 20 Millionen Menschen während des Zweiten Weltkrieges. Milliarden von Menschen in der dritten Welt leben so nahe am Existenzminimum, dass sie «Wohlstand» nicht einmal buchstabieren, geschweige denn erleben können. Jugendliche in Slums begegnen so oft Ge­walt und Drogenmissbrauch, dass es für sie zum Alltag ge­hört. Millionen von Menschen leiden, weil sie missbraucht werden. «Warum ich?» scheint nicht die richtige Frage zu sein. «Warum nicht ich?» trifft den Punkt, wenn im Blickfeld bleibt, wie die meisten Menschen leben. Mein Leid war nichts Be­sonderes. Ich gehörte nur plötzlich zu der grossen, weltwei­ten Gruppe von Menschen, die Leid erfahren, das begriff ich bald nach dem Unfall. Ist es realistisch, ein Leben ohne Enttäuschung und Probleme zu erwarten? Frei von Verlusten und Schmerzen? Schon allein diese Forderung ans Leben zu stellen, erscheint mir nicht nur unrealistisch sondern auch arrogant.

Das Problem der Fairness

Acht Monate nach dem Unfall stand der angebliche Fahrer des anderen Wagens wegen drei Anklagepunkten auf Totschlag vor Gericht. Ich war als Zeuge für die Anklage ge­laden. Rache wollte ich nicht, aber der Mann sollte seine gerechte Strafe bekommen. Der Prozess würde wenigstens einen gewissen Ausgleich schaffen für das Leid. Doch der Mann erhielt einen Freispruch, da nicht bewiesen werden konnte, dass er es war, der wirklich am Steuer sass. Ich war ausser mir über diese Ungerechtigkeit, die ge­nauso zum Himmel schrie wie der Unfall selbst. Nach einiger Zeit wurde ich aber stutzig über die Annahme, ich hätte ein Recht auf vollkommene Fairness. Selbstverständ­lich habe ich es nicht verdient, drei Menschen aus meiner Familie zu verlieren. Aber wieder bin ich mir nicht sicher, ob ich es verdient hatte, überhaupt mit ihnen zusammen zu sein. Lynda war eine Frau mit ausgezeichneten Qualitäten und stand mir auch während einigen harten Zeiten liebevoll zur Seite. Meine Mutter führte ein gutes Leben und hat bis zum Schluss Menschen geholfen, ausserdem verhielt sie sich un­glaublich einfühlsam, als ich in meiner Teenagerzeit rebellier­te. Diana, meine Tochter, sprudelte nur so vor Lebensfreude. Vielleicht habe ich nicht verdient, sie zu verlieren, aber hatte ich es verdient, dass sie Teil meines Lebens geworden sind? Ich bin mir nicht so sicher, ob ich lieber in einer «fairen» Welt leben würde. In so einer Welt wäre ich nie Opfer einer unverdienten Tragödie, aber genauso wenig würden mich unverdiente Ge­schenke überraschen. Gottes Gnade, wie ich sie durch die drei lieben Men­schen erfahren habe, die jetzt nicht mehr da sind, hätte ich nie erlebt. Der Nachteil einer völlig fairen Welt: Es gibt keine Geschenke. Denn Geschenke verdienen nur diesen Namen, wenn sie unverdient sind.

Gnade statt Fairness

Im Leben kommt es manchmal schlechter als erwartet, dafür aber auch manchmal viel besser. Ich werde von unver­dientem Leid, wie von unverdienten Freuden überrascht. Natürlich verzich­te ich gerne auf Schmerzen, für die ich nichts kann. Aber ich ertrage sie, um Gnade zu erfahren. Wenn ich irgendetwas in den letzten drei Jahren gelernt habe, dann dass ich mich nach der Gna­de Gottes sehne und sie brauche. Ich fühle mich nicht mehr unter Druck, Gott zu beeindrucken oder ihm etwas zu beweisen, obgleich ich ihm mit ganzem Herzen und ganzer Kraft dienen will. Mein Leben ist voller Erfül­lung, selbst wenn ich weiterhin den Schmerz über den Verlust fühle. Gnade hat mich verwandelt. Langsam habe ich gelernt, welcher Platz Gott gehört, und habe ihm den Weg frei gemacht, über diesen Raum die Kontrolle zu übernehmen – ich habe ihm das Zentrum des Lebens überlassen und ihn nicht an den Rand ver­bannt. Also: Gott möge uns diese menschliche «Fairness» ersparen!

Bearbeitung: David Sommerhalder, Livenet.ch

Datum: 12.01.2006
Quelle: Neues Leben

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