Moldawien wird 20-jährig

Bittere Armut trotz wirtschaftlicher Entwicklung

Dina (Name geändert) steht in zerschlissenen Kleidern im Hof, ein paar Hühner irren herum. Oft ist für die Familie der Teenagerin bereits eine Flasche Trinkwasser zu teuer. Dina lebt nicht irgendwo in Afrika. Sie ist weiss und lebt in Europa und dies nicht südlicher als Zürich.
«Manchmal ist selbst eine Flasche Trinkwasser zu teuer»
Kein fliessendes Wasser und oft keine Arbeit. Auch diese Familie lebt in Armut.

Heute am 27. August 2011 feiert Moldawien zwanzig Jahre Unabhängigkeit – und beherbergt viele Arme, wie Dina. Artur hat mit dem Geländewagen alle Hände voll zu tun.

Seit wir die Hauptstrasse verlassen haben, ist die Fahrbahn nicht mehr asphaltiert. Die staubige Strecke ist in der regnerischen Zeit ausgespühlt worden und nun von tiefen Furchen gezeichnet, denen es auszuweichen gilt.

Verwitterte Mauern schirmen geschundene Häuschen ab, denen anzusehen ist, dass hier wenig bemittelte Menschen leben. Den Ärmsten steht ein Netzwerk bei, das sich aus einer lokalen Hilfsvereinigung und örtlichen Christengemeinden zusammensetzt.

«Die Ärmsten unter den Armen kennen sich. Wer zu den Hilfsempfängern gehört, wird durch die lokalen Partner, gemäss LIO-Weisung ‚Standards und Grundsätze in der Nothilfe‘, selber entschieden. Vielfach erhalten unsere Diakone Tipps von Hilfeempfängern, wer noch weit unter den durchschnittlichen Lebensverhältnissen lebt.

Oder über das Sozialamt erhalten unsere Partner auch immer wieder Adressen von Menschen die am Rande der Gesellschaft leben», bilanziert Matthias Schöni, der das Hilfs- und Missionswerk «Licht im Osten» (LIO) leitet.

Kein Geld für Kindergarten

Vor einem heruntergekommenen Anwesen halten wir. Ein paar Hühner tippeln über den kleinen Hof, aus einem kargen Zwinger schauen uns grosse Kaninchenaugen an und bald stehen zwei, drei Kinder vor uns und ihre beiden älteren Schwestern. Alle tragen abgewetzte Kleider deren Farben längst verblasst sind, ihre schmutzigen Füsse stecken in ausgeleierten Sandalen.

Hinter ihnen schaut ein altes Mütterchen mit zerfurchtem Gesicht aus dem abgehalfterten Häuschen. Die Eltern sind gerade nicht da, sondern am Arbeiten, erklären die beiden Teenagerinnen.
Die Familie zählt sechs Kinder, die sich mit dem kargen Einkommen des Vaters durchschleppt.

Ihr Vater, ein Tagelöhner findet von Zeit zu Zeit einen Kurzzeit-Job, dann wieder nicht; es sei schwer, eine Stelle zu finden. «Die Situation ist sehr schlecht, aber wir versuchen zu helfen, so gut es geht», sagt Dina (Name geändert) leise.

Vier der Geschwister gehen zur Schule, die beiden jüngsten würden noch in den Kindergarten gehören, doch dazu sei kein Geld vorhanden. Der Staat helfe nicht und im Land denke jeder nur an sich.

Faust aufs Auge

«Selbst eine Flasche Wasser ist für uns etwas Teures und das Essen sowieso.» Viele der Armen, so Übersetzer Artur Soldau, ernähren sich von ihren Tieren, Ziegen, Hühnern, Gänsen – da sich diese reproduzieren und dadurch wenig kosten.

«Ich hoffe, dass meine Eltern bald mehr arbeiten können, so dass wir eine bessere Schule besuchen können», blickt Lia (Name geändert) nach vorn. «Ich möchte eines Tages Köchin werden.»

Und Dina Lehrerin und eine der jüngeren Schwestern Malerin. Vom einheimischen Team erhält die Familie einen Sack voller Kleider aus der Schweiz.

Die etwas rauhe, teils steppenähnliche Landschaft ist märchenhaft, da und dort grasen Pferde und Schafe. An kleinen Seen tummeln sich Enten, während da und dort kleine Gänseherden nach Essbarem schnabulieren.

Vereinzelte Bäume imponieren mit bestechend leuchtendem grün. In dieser Gegend bleierne Armut zu finden ist wie die Faust aufs Auge. Weisse Europäer, die nicht südlicher leben als die Schweiz liegt, und die höchst bedürftig sind, sind ein ungewohnter Anblick.  

«Es reicht nicht weit»

Diese Familie ist kein Einzelfall im wirtschaftlich schwächsten Staat des Kontinents. Wir treffen eine andere Sippe, die sieben Kinder zählt und etwas ausserhalb in einem schlichten, kleinen Backsteingebäude wohnt. «Eigentlich wollten wir hier dieses Haus fertig bauen, aber es reichte nicht.»

Zwar gebe es Licht und Strom, aber kein Wasser. Dieses muss bei einer etwa ein Kilometer entfernten Pumpstation mit Eimern geholt werden. Im Garten mottet ein kleines Feuer, aus dem Kehricht wird Asche, der als Dünger im Garten genutzt wird.

«Mein Mann sucht nach Arbeit, ich kümmere mich um die Kinder.
Manchmal erhält er für einen Monat eine Stelle, dann kriegen wir bis zu 150 Dollar Ende Monat, aber das reicht nicht weit.» Diese Summe ist auch in Moldawien wenig. «Wir haben Hühner und eine Kuh, die gibt Milch für die Kinder», sagt Mutter, während einer der Buben ein paar Gänse vor der Haustür verscheucht.

«Einmal ist alles vorbei»

«Ich danke Gott, dass ich ihn treffen durfte», sagt die leidgeprüfte Mutter. «Es ist das Beste, was mir je geschah. Früher, ohne Gott war es sehr hart. Nun weiss ich, dass eines Tages alles zu Ende ist und ich ihn treffen werde. Natürlich hoffe ich auch, dass es hier schon besser wird.»

Nicht eben besser sieht es bei der nächsten Familie aus, die wir besuchen. Maria pflegt ihren kranken Bruder. Er ist seit vier Jahren bettlägerig und als seine Mutter kürzlich starb, hat der den Verstand verloren. Es riecht übel in der kleinen Wohnung und er schreit auf seinem Lager, weil er sich Fremde nicht gewohnt ist. Weil er krank ist, zahlt der Staat fünfzig Dollar Rente pro Monat, das reicht, um haarscharf zu Überleben.

«Seit zwanzig Jahren steckt Moldawien in einer schweren Krise. Dies ist für die Leute sehr deprimierend und führt zu viel Resignation, Hoffnungslosigkeit und Landflucht», beobachtet Matthias Schöni.

«Licht im Osten ist seit der Öffnung in Moldawien in verschiedenen Bereichen tätig. Der erste Missionar war ein Rumäne aus Suceava. Durch seinen evangelistischen und diakonischen Einsatz entstanden in den letzten Jahren über zehn christliche Gemeinden.»

Verdienen um zu dienen

Laut aber gutmütig brummt ein mit Holz befeuerter Wagen – eine alte Schweizer Militärbäckerei, die vor vier Jahren durch «Licht im Osten» hierher nach Carpinieni überführt wurde. Seither ist die Maschine im Betrieb, täglich backen die emsigen Mitarbeiter rund 1200 Brote und Süsswaren wie etwa Berliner-ähnliche Naschereien.

Wenn also eine Backware drei Personen erreicht, bezieht einer von tausend Moldawiern sein Brot aus dem alten, feldbraunen Armee-Anhänger. Und sollte er einmal ausfallen, steht neben dran ein zweiter, auf den dann jeweils ausgewichen wird.

Durch den Erlös betreibt die Bäckerei mittlerweile einen Schulbus, der die Kinder armer Familien zum fünf Kilometer entfernten Unterricht fährt. Derzeit treibt Leiter Nicolai Podoleanu die Errichtung einer Zahnarztpraxis voran und den Aufbau des ersten Spitex-Dienstes in der Region; beide Angebote sollen für die Minderbemittelten kostenlos zur Verfügung stehen. «Wir verdienen, um zu dienen», sagt Podoleanu.

«Eine Schweizer Stiftung hat im Jahre 2006 in Carpineni den Bau dieser Bäckerei ermöglicht. Licht im Osten hat in der Ukraine über 15 selbständige Bäckereien mit über 500 Mitarbeitenden», erklärt Matthias Schöni.

«Somit konnte dieses Know How auch in Moldawien umgesetzt werden. Im Jahre 2009 starteten LIO mit Hilfsgüterverteilung im Gebiet von Carpineni. Im Jahre 2010 wurde das Hilfsgüter- und Sortierzentrum im Pavillon eröffnet.»

Gutgelaunte Helfer

In einen von der Schweiz aus gestifteten Pavillon, direkt neben der Bäckerei, werden die Hilfsgüter abgeladen, die wir vom LIO-Lager in Frauenfeld hierher überführten. Drei Tage hatte Chauffeur Lukas Blaser einen 40-Tonnen-Truck via Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien nach Moldawien gelenkt, wo wir freudig empfangen wurden.

«Die Güter werden richtig eingesetzt und schaffen Zugang zu Menschen, die am Rande der Gesellschaft sind und um die sich sonst kaum jemand kümmert. Wir sind nicht ein Profit-Unternehmen sondern ein Menschen-Unternehmen. Ich fahre gerne selber hin, die Freude der Empfänger ist sehr gross und die Landschaft wunderschön», bilanziert Lukas Blaser.

Nun bildet eine gutgelaunte Mannschaft des Netzwerks eine Reihe, behende fliegen die Kleidersäcke von einer Station zur nächsten ebenso werden die Fahrräder behutsam vom Auflieger gehoben. Von hier aus geschieht nun in den nächsten Wochen die Feinverteilung.

Und die geschieht laut Matthias Schöni so: «Die Hilfsgüter werden im Bezirk Hincesti verteilt.Dieser Bezirk, zu dem etwa 100'000 Einwohner zählen, liegt im Westen des Landes an der Grenze zu Rumänien. Wir setzen in der Verteilung Schwerpunkte.

So zum Beispiel verteilt ein Diakon nun seit zwei Jahren Hilfsgüter im Dorf Pascani. Es ist erstaunlich, wie sich durch die sozialen Dienste Türen in die Häuser und Herzen öffnen. Unser Gebet ist, dass in diesem Dorf eine christliche Gemeinde entstehen darf.»

20 Jahre Moldawien

Für Schüler in westlichen Staaten mag der 27. August 1991 sicherlich kein Feiertag gewesen sein, denn an diesem Tag musste schon wieder eine neue, europäische Hauptstadt auswendig gelernt werden; sie heisst im übrigen Kisinau. Auf solcherlei Befindlichkeiten freilich achteten die Moldawier nicht, sie lösten ihr Gebiet aus der Konkursmasse der einstigen Sowjetunion und erklärten an diesem historischen Tag ihre Unabhängigkeit.

Somit wird die noch sehr junge Nation am Samstag, 27. August 2011, zwanzigjährig. Matthias Schöni erinnert sich. «Vor über zwanzig Jahren fuhr ich selber einen Sattelschlepper mit Hilfsgütern für Licht im Osten in den Osten Rumäniens.

Als die Leute in den Dörfern die rot-weissen, modernen Trucks sahen, sprangen sie an die Strassenränder und versuchten unseren Konvoi aufzuhalten. In der Nacht mussten wir die Lastwagen bewachen. Kaum hatten wir angehalten versammelten sich die Leute um die Lastwagen und bettelten um Hilfe.»

Fruchtbare Böden

«Landwirtschaftlich gesehen hat Moldawien die fruchtbarsten Böden Europas. Statistisch gesehen ist es das ärmste Land Europas, ganze 600 Schweizer Franken beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Zur Sowjetzeit war Moldawien für die Russen der Hauptlieferant für Wein, Gemüse und Obst», sagt Schöni. «Seit der Öffnung verzettelte man sich offenbar bei der strategischen Ausrichtung.

Die Frage war, gegen Westen oder doch eher dem Osten treu bleiben? Die Untreue zu Russland kommt dem Lande teuer zu stehen. Wein und Früchte werden kaum mehr nach Russland exportiert und die Europäer haben in den letzten Jahren nicht Reserven um in einem Land, wie Moldawien, nachhaltig zu investieren.»

Mit Gewerbeförderung wolle LIO in diesem Land die Armut nachhaltig bekämpfen, sagt Matthias Schöni. «Die Hilfsgüter helfen den Ärmsten zu überleben. Mit aller sozialen und wirtschaftlichen Hilfe hoffen und beten wir, dass viele Menschen wirkliche Hilfe und Hoffnung in Jesus Christus finden.»


Teil 1: Rentner verfrachten jährlich 400 Tonnen Hilfsgüter
Teil 2: Mit 470 PS nach Moldawien – Schlaglöcher und mürrische Zöllner 

Datum: 27.08.2011
Quelle: Jesus.ch

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