Aufmerksamkeits-Spanne und Gottesdienst
Schlechtere Konzentration als ein Goldfisch? Vor inzwischen zehn Jahren sorgte eine Studie hier für Aufregung und Spott. Microsoft liess damals untersuchen, wie sich die Aufmerksamkeitsspanne von Menschen im Laufe der Zeit verändert hat. Das Ergebnis: Im Jahr 2000 betrug diese Aufmerksamkeitsspanne rund zwölf Sekunden. Im Jahr 2013 war sie auf acht Sekunden gesunken. Die Zeit, in der sich ein Goldfisch durchgehend auf etwas konzentrieren konnte, liegt bei neun Sekunden – also länger als Menschen von heute. Seitdem wabert diese Information über die «Generation Goldfisch» als fun fact durchs Netz. Ein wissenschaftlicher Blick darauf weckt zumindest Zweifel, ob das Ganze im Detail stimmt. Von welcher Art der Aufmerksamkeit ist hier die Rede? Auch scheint es Unstimmigkeiten zu geben, woher die Angabe der «acht Sekunden» stammt.
Tatsache bleibt jedoch, dass wir im digitalen Zeitalter auf eine neue Weise lernen müssen, mit Ablenkungen durch Mails und Nachrichten, Pop-ups und einer wahren Informationsflut umzugehen. Gleichzeitig rücken Phänomene wie ADS – das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom – stärker in den Fokus. Auch viele Erwachsene beklagen, dass sie sich kaum konzentrieren können und leicht ablenken lassen. Welche Auswirkungen hat das auf das typische Gemeindeleben oder auf den sonntäglichen Gottesdienst?
Schule reagiert – Kirche nicht?
Während Schulen schon längst damit umgehen (müssen!), die Aufmerksamkeit ihrer Schülerinnen und Schüler zu gewinnen und zu halten, sieht das in der Kirche oft anders aus. Nach einer hektischen Woche findest du dich in einem Gottesdienst wieder, in dem Sonja sich um die Moderation kümmert (und Sonja nimmt gern grosse Teile der Predigt in ihren Gedanken vorweg!), Marc leitet den Lobpreis und sorgt dafür, dass kein Lied ohne vier Wiederholungen zu Ende geht, und als Thomas auf die Kanzel steigt, wird dir klar, dass er dich wieder an jeder einzelnen seiner gewonnenen Erkenntnisse zum Bibeltext teilhaben lassen wird. Du realisierst, dass du über eine Stunde in einem Vortrag sitzen wirst. So lange am Stück musst du sonst nie zuhören. Du bist bereits müde und deine Gedanken schweifen ab. Wie mag es den anderen im Gottesdienst gehen?
Dein Gottesdienst kann völlig anders aussehen, aber es ist unwahrscheinlich, dass er dem Rechnung trägt, dass die Aufmerksamkeitsspanne heute geringer ist als vor 100 Jahren – auch ohne das Reden von einer «Generation Goldfisch». Wie kann Kirche dieser veränderten Wirklichkeit begegnen?
Medien sind keine Lösung
Besonders im freikirchlichen Kontext schienen «moderne» Medien bis vor einer Weile eine echte Lösung zu sein. Bei Licht besehen, wird dadurch aber nur das Problem verschoben. Ein Vortrag oder eine Predigt wird nicht automatisch greifbarer, interessanter oder leichter zu verfolgen, wenn sie durch eine Powerpoint-Präsentation begleitet werden. Und wenn du schon einmal mehrere Wochen lang den hin- und herspringenden Darstellungen mit «Prezi» folgen musstest, ist deine Aufmerksamkeit dadurch wahrscheinlich auch nicht besonders gestiegen.
Deutlich mehr erreichst du als predigende Person, wenn du dir klarmachst, wen du vor dir hast, und nicht «der Gemeinde», sondern den einzelnen Personen darin begegnest: der müden Mutter von Zwillingen genauso wie dem Abteilungsleiter, der diese Woche bereits ein Dutzend Präsentationen ansehen oder halten musste, der lernbereiten Studentin wie dem Beamten, der eher Ermutigung für seinen Alltag sucht als neue Informationen. Aus Sicht derjenigen, die den Gottesdienst besuchen, hilft eine gewisse Abwechslung in der Predigt mindestens so viel wie Routine beim Gesamtablauf. Die entscheidende Rolle spielt eher das eigene Interesse am Thema. «Anders als die Legende um den Goldfisch glauben macht, können Menschen sich bis zu 50 Minuten konzentrieren», unterstreicht ein Artikel der ZEIT übers Lernen.
Was hilft denn?
Die Aufmerksamkeitsfrage gnädig angehen
Offensichtlich ist ein Vergleich mit früher oder anderen Kulturkreisen nicht hilfreich. Wir müssen heute damit umgehen und ein Gleichgewicht zwischen Gnade und Verständnis für die Dinge finden, die wir nicht beeinflussen können – wie z.B. ADHS oder verändertes Denken. Gleichzeitig kannst du durchaus dein Smartphone in den Griff bekommen oder die eigene Konzentration trainieren, wenn es dir wichtig ist. Denn es ist schon klar: Christliche Nachfolge ist ohne Fokus, Konzentration und Zeit nur sehr eingeschränkt möglich.
Gottesdienste zuspitzen
Das bedeutet nicht zwangsläufig, sie zu kürzen, aber oft würde ein stärkerer Fokus der predigenden Personen den zuhörenden Leuten helfen. Das bekannte Format der TED Talks geht von dem Grundsatz aus: Was man nicht in 18 Minuten erzählen kann, sollte man überhaupt nicht erzählen. Wer einmal hineinhört, wird feststellen, dass das Ergebnis keinesfalls sinnentleerte Kürze ist, sondern zugespitzte und relevante Inhalte.
Herausfordernde Inhalte packend darbieten
Wenn du einen Wikipedia-Artikel verfasst, muss dieser den sogenannten «Relevanzkriterien» genügen, sprich: Er muss genügend Leserinnen und Leser interessieren. Wenn in unseren Gottesdiensten Themen behandelt werden, die interessant sind, dann hören Menschen auch gern zu. Wenn sie darüber hinaus noch lebendig dargeboten werden – lebensnah, mit Beispielen, gern auch mit Bildern, vielleicht sogar interaktiv unter Beteiligung der Zuhörenden –, dann ist Aufmerksamkeit selten ein Problem. Und dabei geht es nicht darum, Fernsehformate zu kopieren, sondern fantasievolle Wege zu finden, um andere zu «erreichen» (wie es eine fromme Vokabel passend ausdrückt).
Neurodiversität akzeptieren
Aktuelle Forschung im Bereich von ADHS und ähnlichen Phänomenen sprich nicht länger von «Störungen» oder «Krankheiten». Stattdessen ist immer öfter die rede von Neurodiversität – dem Akzeptieren, dass sich menschliches Denken in einem sehr breiten und unterschiedlichen Spektrum bewegt. Die eine will intellektuell herausgefordert werden, der nächste ist davon bereits überfordert… Ein möglichst vielfältiger Ansatz in Gottesdiensten, der es unterschiedlichen Menschen ermöglicht, dort anzudocken, ist nicht nur hilfreich, sondern besonderer Ausdruck christlicher Willkommenskultur. Dann steht am Ende nicht der Vorwurf, dass jemand der Predigt nicht folgen konnte, weil seine oder ihre Aufmerksamkeitsspanne auf dem Niveau eines Goldfischs liegt, sondern die gemeinsame Erfahrung: Gottes Wort berührt noch heute Menschenherzen.
Zum Thema:
Lernen von Comedians: 9 Tipps für bessere Predigten
Weiterbildung Medien: Wie kommuniziert deine Kirche?
Datum: 17.05.2025
Autor:
Hauke Burgarth
Quelle:
Livenet