„Augstein deckte die Schuldgeschichte der Kirche gnadenlos auf“

Der verstorbenen “Spiegel”-Herausgeber Rudolf Augstein.

Hamburg. Kirche und Politik haben in Hamburg Abschied von dem am 7. November verstorbenen “Spiegel”-Herausgeber Rudolf Augstein genommen. An der Trauerfeier am 25. November in der Hauptkirche St. Michaelis nahmen unter anderen Bundespräsident Johannes Rau, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Altbundeskanzler Helmut Schmidt teil.

In seiner Predigt bezeichnete Hauptpastor Helge Adolphsen Augstein als “leidenschaftlichen Aufklärer, einen Moralisten und Wahrheitssucher mit scharfem Intellekt”. Der Theologe ging auch auf die Kritik ein, die der Verleger – er war 1968 aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten – wiederholt am christlichen Glauben und der Kirche geäussert hatte. Augstein habe “der Kirche viel Bedenkenswertes in ihr 2000 Jahre altes Stammbuch geschrieben, sowohl in die Bibel als auch auf die dann folgenden vielen Seiten”. Gnadenlos habe er die kirchliche Schuldgeschichte duchschaut und aufgedeckt. “Seine Angriffe galten einer Institution, die Gott als den Gott der Macht und der Gewalt in ihrem Verhalten widerspiegelt und die mit einem imperialistischen Absolutheitsanspruch ihre Wahrheit und ihre Ethik durchsetzt”, so Adolphsen.

Keine Bekehrung auf dem Totenbett

Augstein habe sich auch auf dem Totenbett nicht bekehrt. Er habe nur das geglaubt, “was man mit dem Intellekt und dem historischen Scharfsinn erfassen kann”. Die Religion sei für ihn aber eine “ernste Sache” geblieben. Adolphsen erinnerte an den Ausspruch Augsteins: “Ich glaube nicht an Gott. Ich glaube nicht an die Auferstehung irgendeines Toten, und dann muss ich mich auch damit gar nicht weiter beschäftigen.” “Er (Augstein) muss sich auch jetzt nicht weiter mit der Auferstehung beschäftigen. Aber dass Gott sich mit ihm beschäftigt, daran glaube ich. Wie, das ist Gottes Sache.”

Bundespräsident Rau würdigte Augstein in seiner Trauerrede als “letzten Gründungsvater des freien Journalismus in Deutschland”. Seine Respektlosigkeit gegenüber jeglicher Autorität sei in seinem Respekt vor der Demokratie begründet gewesen. Im Vorfeld der Trauerfeier hatten Freidenker, Konfessionslose und Atheisten den gottesdienstlichen Charakter kritisiert. Dies sei “eine Verhöhnung des Verstorbenen, seiner Weltanschauung und seines Lebenswerkes.

KOMMENTARE

Was nun, Rudolf Augstein?

Darf man einen prominenten Atheisten und Christus- wie Kirchenfeind kirchlich beerdigen? Gleich zwei kirchliche Trauerfeiern für Rudolf Augstein haben bei Christen und Nichtchristen für Verärgerung gesorgt: Der am 7. November verstorbene Spiegel-Herausgeber wurde zunächst auf Wunsch der Familie auf Sylt von der evangelischen Kirche bestattet; am 25. November fand dann in der evangelischen Hamburger Hauptkirche St. Michaelis eine offizielle Trauerfeier statt, bei der Hauptpastor Helge Adolphsen predigte. Adolphsen wies darauf hin, dass die Anfrage zu der Trauerfeier vom Hamburger Senat gekommen sei. Auch die Familie des Verstorbenen und der “Spiegel”-Verlag wünschten die Feier in dieser Kirche. Die Verbände von Freidenkern, Konfessionslosen und Atheisten protestierten in einem Schreiben an den Hamburger Bürgermeister dagegen, dass eine Kirche als Ort der offiziellen Trauerfeier für den “dezidierten Nicht-Christen und Nicht-Gläubigen” dient. Augstein hatte 1968 die römisch-katholische Kirche verlassen und wiederholt scharfe Kritik am christlichen Glauben und den Kirchen geübt. In seinem letzten Interview verneinte er die Frage, ob er an Gott glaube, und fügte hinzu: “Ich glaube nicht an die Auferstehung irgendeines Toten.” Generalsuperintendent Rolf Wischnath (Cottbus) warf auf der berlin-brandenburgischen Synode die Frage auf, ob Augstein nun in der Hölle lande. Der reformierte Theologe gab jedoch auf der Synode keine Antwort. Jetzt nimmt er dazu Stellung. Zum Thema ferner aus lutherisch-pietistischer Sicht der Vorsitzende der Deutschen Evangelistenkonferenz, Pastor Wilfried Reuter, Leiter des Geistlichen Rüstzentrums Krelingen (Lüneburger Heide).

Kommt Augstein in die Hölle?

Rolf Wischnath

Rudolf Augstein hätte sich dem Lachen gern angeschlossen, das diese Frage auf der brandenburgischen Synode auslöste. Er konnte sich nur noch lustig machen über Himmel und Hölle. Schon dem Kindergebet “Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!” galt sein Spott: “Stell mir eine Leiter dran, dass ich wieder runter kann.” Und sich einen Moment auch nur vorzustellen, wie zynisch er die kirchliche Beteiligung bei seiner Beerdigung auf Sylt und die Trauerfeier im Hamburger Michel im “Spiegel” verrissen hätte, lässt einen frieren. Ob die vielen ehrenvollen Nachrufe auf diesen Spötter etwas damit zu tun haben, dass ihm gerade darin so viele zustimmen: im Zynismus, der sich durch die Heilsfrage nicht beirren lässt und für die Kirche allenfalls Hohn übrig hat? Oder könnte seine intensive Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Exegese ihn dazu gebracht haben, die Spezies von Theologen nicht länger ernst zu nehmen, die die Konsequenzen ihrer Ergebnisse zu ziehen verweigern? In diesem Sinne ist sein Buch “Jesus Menschensohn” nicht so schlecht, wie es die Zunft macht.

Sowohl als auch

Aber sogleich ist in Augsteins Land auch die fromme Christenschar zu fragen: Könnte sein Unglaube nicht auch dadurch verursacht sein, dass wir so selten den Ernst des Evangeliums zur Sprache bringen? Leider sind nun gerade evangelikale Predigten über die Heilsfrage oft von einem Unernst geprägt, in dem entweder der Glaube zur menschlichen Möglichkeit oder das Evangelium zur Zuchtrute verkehrt wird. Ich meine besonders die Leichtfertigkeit, wie ich sie exemplarisch vor Jahren in einem Gemeindehaus im Siegerland auf einem riesigen Wandspruch las: “Die Entscheidung muss bei dir fallen: Entscheidung für Jesus. Sonst gehst du verloren.” Wo jedoch die Seligkeit des Menschen von seinem freien Willen abhängig gemacht wird, grassiert ein Glaubensverständnis, das sich verabschiedet hat von dem, was jedenfalls im Neuen Testament und in der Reformationszeit unter “Glauben” verstanden worden ist – nämlich alles andere als eine attraktive oder bedrohliche Entscheidungsmöglichkeit auf dem Markt der Möglichkeiten, die Rudolf Augstein zu Recht von sich gewiesen hat.

Glauben – eine neue Geburt

Geradezu dagegen heisst “Glauben” in den Gründungs- und Reformationsurkunden der Kirche: Gott recht geben, indem ich mir selber unrecht gebe, und darum umkehren und Busse tun. Ja, “Glauben” bedeutet Sterben und Auferstehen, eine neue Geburt. Sie widerfährt mir, wie meine leibliche Geburt mir nur eben widerfahren ist: “Der Glaube ist die Auferstehung von den Toten!” sagt der Kirchenvater Tertullian - zu Recht. Und das heisst, der religiöse oder areligiöse Mensch hat von sich aus keine Möglichkeit zu glauben, so wie ich mich bekanntlich nicht selber aus dem Tod erwecken kann.

Bin ich nur Objekt?

Aber bin ich dann nicht lediglich Objekt des Handelns Gottes? Heisst das nicht, einen “Automatismus der Gnade” zu vertreten? Muss ich denn nicht an irgendeiner Stelle der Glaubensaneignung für das Zustandekommen des Glaubens verantwortlich sein? Nein. Es ist stets die sublimste Form der Rechtfertigung aus mir selbst, wenn ich den Glauben auch nur im Geringsten von mir abhängig mache. Der Glaube aber kann nur anheben mit dem bittenden Bekenntnis: “Herr, ich glaube – hilf meinem Unglauben!” Und diese Bitte ruft niemand anders als der Heilige Geist hervor. Oder lutherisch gesagt: “Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann ...” (Luthers Erklärung zum Dritten Artikel). Ein Symptom für das so verbreitete Missverständnis über die Glaubensaneignung ist, dass wir uns in der allgemeinen kirchlichen Diskussion um Evangelisation und Mission bislang von der biblischen Erwählungslehre – präzise von der auf vielen Seiten der Bibel bezeugten Prädestinationslehre im Blick auf das Zum-Glauben-Kommen – nicht mehr beunruhigen lassen. Es steht aber so: “Gott hat uns selig gemacht und berufen mit einer heiligen Berufung, nicht aufgrund unserer Werke (oder dem von uns in Gang gesetzten Glauben), sondern aufgrund seiner eigenen, zuvor getroffenen Entscheidung (Prädestination!) und nach der Gnade, die uns verliehen worden ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt” (1. Timotheus 1,9).

Es gibt eine Grenze

Wir müssten uns darum bei all unseren Missions- und Evangelisationsanstrengungen, aber auch bei allen Auseinandersetzungen mit dem Unglauben stets vor Augen halten, dass es eine Grenze gibt, die niemand überschreiten kann und darf: Wir können bei uns selber und bei anderen den Glauben nicht machen. Dass du und ich glauben, ist nicht unser Verdienst. Es ist Geschenk der freien Gnade Gottes, der in seiner Erwählung uns von Ewigkeit her dazu bestimmt hat. Und dass andere Menschen zum Glauben kommen – und wir begegnen niemandem, von dem wir nicht glauben dürften, dass nicht auch er oder sie zum Glauben bestimmt wäre –, das ist ebenfalls im letzten Grund Werk und Sache der freien Gnade. Das macht den Ernst und die Freude des Evangeliums aus. So aber geschieht auch unsere Entlastung, die wir in allem Treiben einer “missionarischen Kirche” erfahren dürfen. Wir machen es nicht! Und der Unglaube eines Zeitgenossen bleibt ein Rätsel, das wir nicht lösen. Vielleicht war Rudolf Augstein nach Gottes Rat und Plan in seinem Unglauben deswegen so hartnäckig, damit uns die Augen geöffnet werden für diese Grenze. Von daher aber dürfen wir über unseren eigenen Glauben auch nicht mehr sagen als das, was der niederländische Prediger Hermann Friedrich Kohlbrügge (1823 – 1875) so gepriesen hat: “Glauben heisst: Ja sagen mit einem Schrei des Bangens, der Not und der Freude – Amen darauf sagen: dass Gott unsere Seligkeit ausser uns und ohne uns in Christo dargestellt.” Das freilich gilt nun ebenso für die Seligkeit des unseligen Rudolf Augstein. Er wird sich noch wundern. Aber wir auch! Und ob er in den Himmel oder in die Hölle kommt, darüber entscheiden zu unserem Heil weder er noch ich.

Der Glaube ist notwendig

Wilfried Reuter

Wir können die Frage, ob Rudolf Augstein in die Hölle kommt, nicht nach Gefühl und Wellenschlag beantworten, sondern müssen die Heilige Schrift befragen. Und hier begegnen wir einer unauflösbaren Einheit von Glauben und Taufe: “Wer glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden” (Markus 16,16). Beim Zuspruch werden Glaube und Taufe genannt. Beim Drohwort nur der fehlende Glaube. Das macht deutlich: Der Glaube ist heilsnotwendig, die Taufe aber nicht. Was uns Gott in der Taufe zuerkennt, das muss der mündige Christ im Glauben annehmen. Die Zeitfolge – also die Frage: was kommt zuerst – ist beim Handeln Gottes kein wesentlicher Faktor. Somit hat Rudolf Augstein ganz schlechte Karten. Er hat bis zuletzt nicht nur die Kirchen bekämpft – da mag es Gründe geben – er hat sich von Gott und Glauben distanziert und “die Auferstehung irgendeines Toten” weit von sich gewiesen. Somit hat Augstein seine Gottesferne bewusst gewählt. Sein Leben war geprägt von dieser Hassliebe zu dem Nazarener.

Im letzten Augenblick

Sein Buch “Jesus Menschensohn” legt diese Zerrissenheit offen. Augstein sagte sich los von Jesus und wurde ihn doch nicht los – ganz ähnlich wie Nietzsche, dieser in der Verklammerung dennoch Fallende. Weil nun niemand irgend jemandem die Hölle wünschen wird, habe ich auch für Augstein ein Fünkchen Hoffnung. Nicht etwa die Irrlehre der Allversöhnung ist hier gemeint. Aber da sind die letzten Augenblicke eines Lebens, da ist die Weichenstellung vom Irdischen zum ewigen Sein. “Denk an mich, Jesus”, könnte auch zuallerletzt ein Augstein wie der Schächer am Kreuz geseufzt haben. Oder auch anders, mehr seinem kritischen Geist entsprechend: “Ich will dich kennen, Unbekannter, du tief in meine Seele Greifender.” Es wäre dann kein Strohhalm gewesen, nach dem er gegriffen hätte.

Datum: 27.11.2002
Quelle: idea Deutschland

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