Zwischen Erschöpfung und Glück
Es gibt Tage, da fühlt es sich an, als wäre mein Leben ein Marathon, für den ich nie trainiert habe. Ein Marathon, der mittlerweile über sieben Jahre anhält. Momente, in denen die Erschöpfung tiefer geht, als jede Nacht es ausgleichen könnte. Situationen, die mich an den Rand bringen, weil unser Sohn mit seiner Behinderung eine Welt mitbringt, die nicht in die gängigen Raster passt. Der Alltag ist ein ständiger Tanz zwischen Bedürfnissen, die unaufhörlich an mich herangetragen werden, und der eigenen Sehnsucht nach einem kurzen Moment des Innehaltens. Es gibt Tage, an denen ich weinen möchte, weil alles zu viel ist – und doch würde ich um nichts in der Welt tauschen.
Die Herausforderung: Wenn das Leben zu viel wird
Niemand bereitet dich darauf vor, wie es ist, Eltern eines Kindes mit Behinderung zu sein. Es gibt keine Checkliste, keinen Crashkurs. Stattdessen gibt es Krankenhausflure, endlose Formulare und einen Alltag, der von Therapien, Anträgen und Entscheidungen bestimmt wird, die oft grösser sind als ich selbst. Alles muss erkämpft werden. Jeder Antrag, jede Unterstützung, jede Therapie. Und wenn endlich Hilfe kommt, ist auch das wieder eine Herausforderung: Fremde Menschen, die in unser Zuhause treten, Teil unseres Lebens werden, die helfen wollen, aber manchmal auch Grenzen überschreiten. Selbst das Hilfe-Bekommen ist anstrengend. Ein ständiges Koordinieren, Verwalten, Erklären. Aber es ist notwendig, damit wir weitermachen können.
Unsere Gesellschaft ist nicht gemacht für Familien wie unsere. Ich sehe es an den Blicken, an der Mühe, mit der ich immer wieder erklären muss, warum unser Kind so ist, wie es ist. Warum er nicht «einfach so mitmachen» kann. Warum wir nicht spontan sein können, warum unser Leben eine einzige grosse Planung ist. Ich sehe es an den löchrigen Hilfssystemen, die uns mit Mühe auffangen, aber nie ganz tragen. Und an den Momenten, in denen ich selbst nicht mehr weiss, wo ich die Kraft hernehmen soll, um einen weiteren Tag zu bewältigen.
Die Liebe: Stärker als jede Behinderung
Und doch ist da diese Liebe. Diese unerschütterliche, unverhandelbare Liebe, die über allem steht. Mein Sohn liebt auf eine Art, die nichts fordert, nichts misst. Seine Liebe fragt nicht nach Leistung oder Normalität. Sie ist einfach da. Ohne Bedingungen. Ohne Grenzen. Und sie trägt mich durch die schwersten Tage.
Es gibt diese Momente, die alles überstrahlen: Wenn er mich anlacht, mit diesem Blick, der nichts braucht ausser diesem einen Moment. Wenn er sich mit all seiner Kraft durch das Leben kämpft, und ich sehe, dass er glücklich ist – trotz allem. Wenn er mich mit seinen kleinen Händen umfasst, als wäre ich der sicherste Ort der Welt. Und vielleicht bin ich das auch.
Es sind auch die kleinen Dinge: Die Art, wie er sich über Musik freut, wie er in meinen Armen zur Ruhe kommt, wie er mit einem einzigen Blick mein Herz erreicht. Es ist eine Liebe, die nicht berechnet oder abwägt. Sie existiert – inmitten aller Herausforderungen, aller Tränen, aller Erschöpfung.
Es ist nicht nur seine Liebe, die uns trägt. Es ist auch meine Liebe zu ihm. Eine Liebe, die durch die Krankenhaus-Nächte geht. Eine Liebe, die mich dazu bringt, mich auch in den härtesten Situationen über ihn zu freuen, die Zeit mit ihm zu geniessen und gemeinsam zu lachen. Eine Liebe, die mich dazu bewegt, für ihn zu kämpfen, auch wenn es bedeutet, wieder bei einer Behörde anrufen zu müssen, wieder um Unterstützung zu bitten, wieder eine Absage zu ertragen. Eine Liebe, die unser gemeinsames Leben feiert, weil es das mehr als wert ist.
Und es ist die Liebe unserer Familie. Sie zeigt sich in den kleinen Gesten: Wenn wir uns gegenseitig entlasten, wenn wir lachen, auch wenn der Tag schwer war. Wenn wir Pläne schmieden, selbst wenn wir wissen, dass vieles anders kommen wird. Wenn wir uns daran erinnern, dass wir nicht nur durchhalten, sondern auch geniessen dürfen – die besonderen Momente, das Lachen, die Wärme, die uns verbindet.
Zwischen Mühe und Gnade: Die Balance finden
Ja, es ist anstrengend. Ja, es gibt Tage, an denen ich nicht mehr kann. Tage, an denen ich mich frage, wie lange ich das noch durchhalte. Ich habe gelernt, dass ich nicht nur für mein Kind sorgen muss, sondern auch für mich. Das ist leichter gesagt als getan. Wenn jede Minute verplant ist, wo bleibt Raum für mich? Selbst eine kurze Pause fühlt sich manchmal an wie ein Luxus, den ich mir nicht erlauben kann.
Und doch weiss ich: Ich muss mir erlauben, schwach zu sein. Ich muss lernen, Hilfe anzunehmen – nicht nur für mein Kind, sondern auch für mich und die Familie. Ich muss mir zugestehen, dass ich nicht alles allein tragen kann. In den Momenten, in denen ich meine Grenzen spüre, entdecke ich etwas Unerwartetes: Ich bin nicht allein. Ich werde getragen. Von den Menschen um mich herum. Von einer Kraft, die grösser ist als meine eigene. Von einem Gott, der versprochen hat, dass er mit mir geht, auch wenn der Weg steinig ist.
Glaube als Stütze: Wenn Worte Halt geben
Es gibt Tage, an denen mein Glaube mich hält. Und welche, an denen ich an ihm zweifle. Aber immer wieder finde ich zurück. In einem stillen Moment, in einem Gebet, in einer Berührung meines Sohnes, die mir zeigt: Ich bin nicht allein. Manchmal reicht ein Atemzug, um mich daran zu erinnern, dass Gott mitten in diesem Chaos ist – dass er mich sieht, dass er meinen Sohn sieht. Und dass wir getragen sind.
Ich habe einen Psalm geschrieben, der meine Gefühle in Worte fasst, wenn ich es gerade mal wieder nicht kann. Er spricht von den schweren Tagen, von der Erschöpfung und den Tränen. Aber auch von der unzerstörbaren Liebe, die bleibt. Von der Gnade, die uns hält. Und von der Gewissheit, dass wir nie allein sind.
Du bist da, auch wenn ich dich nicht sehe.
Manchmal frage ich mich, Herr,
wo du bist.
Warum so fern?
Warum so still,
wenn ich dich so dringend brauche,
wenn mein Kind dich so dringend braucht? Die Last ist schwer,
mein Herz schwerer noch,
wenn ich in die Augen meines Kindes sehe
und keine Antwort finde.
Ich weine in der Nacht,
mein Kind schläft unruhig,
die Sorgen halten mich wach.
Was wird morgen sein?
Was bringt die Zukunft?
Die Tränen, sie trocknen nicht,
mein Herz, es seufzt,
und die Müdigkeit,
sie schleicht sich in jede Falte meines Lebens.
Ich wünsche mir so sehr,
dass du uns näher kommst,
dass du uns siehst,
mit all unserer Sehnsucht nach Frieden.
Manchmal fühle ich mich zerbrochen,
so wie mein Kind,
das kämpft und ringt,
mit einer Welt, die nicht gemacht ist
für das, was es braucht.
Ich stehe im Schlamm der Sorgen,
versinke tiefer und tiefer,
die Flut der Angst will mich mitreissen.
Und doch muss ich stark sein,
für mich, für mein Kind,
aber woher, Herr, woher nehme ich die Kraft?
Und doch,
da ist etwas,
ein leises Flüstern,
ein sanfter Hauch,
der mir sagt,
du bist da,
auch wenn ich dich nicht sehe.
Du bist der Hirte,
der mein Kind führt,
auch durch die dunklen Täler.
Du hältst uns beide,
wenn wir am Rande stehen.
Du ziehst uns heraus,
aus der Tiefe,
aus dem Abgrund der Verzweiflung,
und du schenkst Heilung,
nicht nur den Wunden,
sondern auch der Seele.
Du legst deine Hand
auf das zerbrochene Herz meines Kindes,
und langsam,
ganz langsam,
füllt sich mein Herz mit Hoffnung.
Du bist der,
der alle Hoffnung erneuert,
der uns trägt,
wenn unsere Kraft versagt.
Du bist nahe,
wenn ich deinen Namen rufe,
du bist da,
in jedem Lächeln,
in jeder Geste,
in jedem Schritt, den mein Kind geht.
So werde ich warten,
in der Stille,
im Vertrauen,
auf deinen Rat,
auf deine Hand,
die uns führen wird.
Und eines Tages
werde ich sehen,
dass du uns die ganze Zeit getragen hast,
mich und mein Kind,
unsere behinderte Familie.
Natürlich gehen durch diese Worte die Herausforderungen nicht weg. Auch nicht, wenn ich sie als Gebet spreche. Aber sie machen mich sprach- und handlungsfähig, wenn Stress und Überforderung die Kontrolle zu übernehmen drohen. Und sie verbinden mich neu mit Gott, der Quelle von Liebe, Hoffnung und neuer Perspektive. Das ist tatsächlich nicht zu bezahlen.
Ich weiss nicht, was die Zukunft bringt. Ich weiss nicht, wie lange meine Kraft reicht oder welche Herausforderungen noch kommen werden. Aber ich weiss, dass ich geliebt bin. Dass mein Sohn geliebt ist. Und das ist am Ende alles, was zählt.
Heiko Metz lebt mit seiner Familie in Marburg und bloggt unter heiko-metz.de. Der Sohn von Heiko Metz hat das Kabuki-Syndrom, eine sehr seltene genetische Erkrankung. Benannt wurde es nach den Masken des japanischen Kabuki-Theaters, da die Betroffenen ähnliche Gesichtszüge aufweisen. Obwohl die Krankheit genetisch bedingt ist, variiert die Ausprägung der typischen Symptome stark. Sie reichen von auffälligen Gesichtsmerkmalen über Wachstumsverzögerungen und Skelettanomalien bis zu geistigen Behinderungen. Auch Organanomalien, die Herz, Nieren und Verdauungssystem betreffen, sind häufig.
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Datum: 08.09.2025
Autor:
Heiko Metz
Quelle:
Magazin Family 04/2025, SCM Bundes-Verlag