„Es ist alles ein Wunder“: Hilde Domin (95) in Kappel

Liebe zum Leben: Hilde Domin
Dichterin und Zeitzeugin: Hilde Domin

Da steigt sie in Zürich aus dem Zug, 158 cm gross – an ihrer Seite ein baumlanger Bahnangestellter, wie in alten Zeiten das Gepäck tragend. Völlig selbstverständlich geht Hilde Domin dann auf die zu, die sie abholen wird.

Anschliessend die Fahrt über den Albis – die Freude am frischen Grün („Fahren Sie langsam – ich will alles sehen“), die Freude an der ländlichen Umgebung, an den alten Gebäuden, an dem Blick aus dem Hotelzimmer hin zum Zuger See und in die Alpen.

Am Abend die Lesung im Kappeler Klosterkeller. Erwartungsvoll sitzen die Menschen da, und die Dichterin beginnt zu erzählen – selbstverständlich, so wie man es im vertrauten Kreis tut: Kindheit in Köln – Studium – Italien – die frühe Ahnung von all den Schrecklichkeiten, die einmal geschehen sollten.

Auswanderung, Exil (nicht Emigration, wie es gerne beschönigend genannt wird). Viele Stationen und schliesslich Santo Domingo. Sie war in all der Zeit Mitarbeiterin des Ehemannes. Vor 17 Jahren starb Erich Palm – wenn sie erzählt, ist der Eindruck da, es sei gestern geschehen.

So wird es denn auch selbstverständlich sein, dass er in den Reden anwesender Gäste an ihrem 95. Geburtstag, den sie im Juli feiern wird, gegenwärtig sein muss. 57 gemeinsame Jahre – sie prägten und prägen. „Unsere“ Wohnung ist es in Heidelberg, „unsere“ Bücher stehen zu Tausenden in den Regalen an den Wänden.

Hilde Domin leitet erzählend über zu den Gedichten: „Schon immer wollte die Mutter, dass ich etwas Eigenes auf den Weg brächte – promoviert ‚summa cum laude’ könne es nicht angehen, allein Mitarbeiterin des Ehemannes zu sein.“

Mit dem Tod der Mutter begann das Eigene. Hilde Domin schreibt Gedichte. Ihre Themen: Exil, Ausgesetztsein, Tod in vielerlei Gestalt – und in all dem das Dennoch: „Aber die Hoffnung....“

Atemlos lauschen die Menschen. Längst ist nicht jedes Wort zu verstehen. Doch wen kümmert es? Wo ein Mensch mit seinen 95 Lebensjahren gegenwärtig ist, ist das unmittelbare Verstehen nicht das Wichtigste. Lebensfreude, erwartungsvolle Haltung, Fragen, Staunen, Neugierde, Liebe zum Leben, Liebe zum Menschen werden auf ganz andere Weise vermittelt – nicht zuletzt darin, dass im Anschluss an die Lesung unermüdlich Bücher signiert werden: „Wie ist Ihr Name?“ – sie schreibt ihn und setzt ihren eigenen dazu.

Später Gespräche im kleinen Kreis – Gespräche in pfingstlichen Tagen über die biblische Pfingstgeschichte: „Lest diese Texte bitte als Texte für Juden und Christen; vergesst die jüdischen Wurzeln nicht“. Eindringlich mahnt sie, die Zeitzeugin und Überlebende. „Es ist nicht selbstverständlich, dass ich jetzt heute hier bin – es hätte auch ganz anders kommen können. Die Familie meines Mannes wurde nach Theresienstadt deportiert – niemand ist zurückgekommen“.
Es ist überhaupt nichts selbstverständlich – es ist alles ein Wunder.
Wie oft hat sie das in den Kappeler Tagen gesagt und damit an die Gedichtszeilen erinnert, mit denen sie die Lesung am Pfingstsonntagnachmittag in der alten Klosterkirche schloss: „Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise, wie einem Vogel die Hand hinhalten“.

Sie will wiederkommen. Wir freuen uns auf sie.

Haus der Stille und Besinnung in Kappel: www.klosterkappel.ch

Autorin: Pfr. Dorothea Wiehmann Giezendanner ist theologische Leiterin des Hauses der Stille und Besinnung im ehemaligen Kloster Kappel zwischen Zürich und Zug.

Quelle: Kappel
Bilder: Regula Stern

Datum: 05.06.2004

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