«Leider», sagt der Lehrer mit strenger Stimme, «du hast den Schulabschluss nicht geschafft!» Drohend kommt der grosse Mann auf mich zu und ich spüre den Angstschweiss auf meiner Stirn ... und wache auf! Erst nach und nach merke ich, dass diese schreckliche Sache nie passiert ist – alles nur ein Alptraum! Schliesslich bin ich schon viele Jahre mit der Schule fertig und selber bereits Mutter eines Schulkindes! In Zeiten grosser Anspannung kommt dieser Traum immer wieder und jedes Mal falle ich auf diesen absurden Gedanken herein und erwache verzweifelt ... Oder dieser Traum, in dem ich von Universitätsskripten umgeben an meinem Schreibtisch sitze und verzweifelt feststelle, dass mir noch zwanzig Prüfungen fehlen und ich auch nach endlosen Jahren des Studiums einfach nicht zum Abschluss gelange! Manchmal wache ich auch erschrocken auf und blicke auf meinen friedlich neben mir schlummernden Mann: Soeben habe ich geträumt, ich wäre schon über vierzig Jahre alt und hätte trotz grosser Sehnsucht keinen passenden Partner gefunden! Die Angst zu versagen – eine Horrorvision für die meisten Menschen. «Bin ich gut genug?» Diese Frage steht gross im Raum. Und vor allem: «Bin ich zumindest so gut wie die anderen? Oder gar ein wenig besser?» Ein Versager ist laut Duden jemand, der das Erwartete nicht leistet. Als sinnverwandte Wörter werden Blindgänger, verkrachte Existenz, Flasche, Nichtsnutz, Niete, Null, Schwächling und Taugenichts angegeben. Frustrierende Ausdrücke, und doch zeigen sie ganz deutlich, wie leistungsbezogen unsere Gesellschaft ist! Meine ab und zu wiederkehrenden Angstträume zeigen mir immer wieder, dass wir auch als Christen stark von diesem Leistungsdenken geprägt sind. In Elternhaus, Kindergarten, Schule, Berufsausbildung und Arbeitsstelle werden wir stark unter Leistungsdruck gesetzt. Im Grunde fängt es damit an, wenn ein Mensch auf die Welt kommt. Mit grosser Verwunderung beobachtete ich das Konkurrenz-verhalten, als mein erstes Baby gerade ein paar Stunden alt war. Für die anderen Mütter im Stillzimmer war es sehr wichtig, wie gross und schwer ihr Baby im Vergleich zu den andern war. Nach einer langen Geburt war ich froh, dass mein Sohn endlich geboren war und verstand den frustrierten Blick meiner beiden Zimmerkolleginnen nicht, die neidisch auf meinen grossen und schmalen Sohn schauten, der ihre Babys um einige Zentimeter überragte. «Aber dafür ist mein Baby schwerer!», meinte eine der Frauen erleichtert. Als mein Zweitgeborener kleiner war als die meisten anderen Babys, war ich es, die beklommen auf die anderen Säuglinge blickte: Würde er wohl als kleiner Junge mithalten können? Konkurrenz beginnt also von Beginn des Menschseins und endet frühestens im Grab. Was bedeutet dies für einen Christen? Kennt die Bibel diesen Leistungsdruck? Wie dürfen wir damit umgehen? Wenn meine Angstträume wiederkehren, weiss ich, dass ich mich in einer Phase besonderer Leistungsanforderungen befinde oder es zumindest so empfinde. Dies und das soll getan werden: Kinderstunden vorbereiten, Frauenkreis organisieren, Sonntagsschulstunden ausarbeiten, Kuchenbacken für den Hauskreis und den Besuch am Sonntag, die Nachbarin einladen, den Kindergeburtstag vorbereiten, den Elternabend besuchen, die verzweifelte Freundin trösten, einkaufen gehen, meine drei Kinder versorgen, das neue christliche Buch lesen, die Wäsche waschen, bügeln, die Betten frisch überziehen, Briefe schreiben, den Zehnten überweisen, den Rasen mähen, die Himbeeren ernten, Marmelade kochen, Frau Müller zum Geburtstag gratulieren ... ganz schwindelig ist mir schon ... wie soll ich da noch das Auto putzen und zu Maiers bringen, die es für die Kinderfreizeit brauchen, zuvor muss aber noch rasch ein Grosseinkauf gemacht werden, bevor wir ein paar Tage ohne Auto sind ... Der nächste Traum des Versagens ist vorprogrammiert – und ich erkenne aufs Neue, dass ich einige Bereiche in meinem Leben noch nicht ganz dem HERRN gegeben habe. Wie lautet doch der Spruch auf meiner Sponsionsanzeige anlässlich meines Studiumsabschlusses? «Vertraue auf den HERRN von ganzem Herzen und verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen» (Sprüche 3,5–6). Noch gut erinnere ich mich an die Empörung einiger Verwandten und Bekannten, die entsetzt waren, dass ich meine akademische Leistung Gott zusprach, so als hätte ich gar nichts mit meinem Studium zu tun gehabt! Aber ich erlebte es als Erleichterung, dass Gott mir bei meinem Lernen half und ich allen Erfolg und Misserfolg in seine Hand legen durfte. Zu Beginn meines Studiums, als junge Christin, machte ich den Fehler, zwischen meinem Einsatz und der Hilfe Gottes zu differenzieren. Erst nach und nach lernte ich, dass ich zwar meinen Teil durch intensives Lernen beitragen musste, aber es doch Gott war, der die Prüfer und mich lenkte. Dem Herrn zu vertrauen ist nicht immer eine Garantie für weltlichen Erfolg, aber wenn unsere Pläne in Gottes Willen sind, hilft er uns durch so manche Schwierigkeit. Als jung verheiratete, noch kinderlose Studentin hörte ich von manchen Christen den wohlgemeinten Rat, dass ich mein Studium abbrechen sollte, wo wir doch einmal eine Familie haben würden und mein Mann über ein abgeschlossenes Studium verfügte. Wir hatten als Ehepaar aber erkannt, dass ich die wenigen Prüfungen noch ablegen sollte, um die vielen Jahre des Lernens abschliessen zu können. In dieser Zeit des Infragestellens (vielleicht entstanden damals meine Versagensträume?) in der Lebenssituation als Studentin konnte ich nach einer bestandenen Prüfung ehrlichen Herzens Gott die Ehre geben, was mir davor oft nicht leicht gefallen war. In Zeiten des mir selbst auferlegten Leistungsdruckes hilft mir der Blick auf diese Zeit, meine Position wieder im richtigen Blickfeld Gott gegenüber zu sehen. «Denn Gott ist es, der in euch beides wirkt, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen», teilte Paulus den Philippern (2,13) aus dem Gefängnis mit. Diese Erkenntnis braucht nicht nur ein aussichtsloser Gefangener, sondern wir Christen mitten in der Welt. Wir haben alles von Gott empfangen und er bewirkt sogar, dass wir überhaupt etwas wollen! Und da lassen wir uns vom Leistungsdruck dieser Welt gefangen nehmen! Immer wieder erschrecke ich über mich selbst, denn es sind ja bei weitem nicht nur die Ehren dieser Welt, die wir so gerne empfangen würden: Der Leistungsdruck macht auch vor den Reihen der Christen nicht Halt. Wie viele waren gestern bei eurem Bibelkreis? Wie viele Menschen habt ihr schon zum Herrn geführt? Wie viele Traktate habt ihr gestern beim Strasseneinsatz verteilt? Bei euch waren gestern zwanzig Kinder in der Hauskinderstunde? Andreas hat sich fünfzig Stunden für die Sonntagspredigt vorbereitet, das macht ihm keiner so schnell nach! In unserer Gemeinde wurde bei der Missionssammlung soundso viel gespendet, und bei euch? Aus unserer Gemeinde wurden sechs Missionare ausgesandt, und bei euch keiner? Auch unter dem Deckmantel der Geistlichkeit kann ein extremer Leistungsdruck aufgebaut werden und schon bald klopfen wir uns für unsere Geistlichkeit auf die Schulter. Wie in so vielen Bereichen kommt es auch hier auf unsere Herzenshaltung an. Natürlich ist es gut und wichtig, von den Erfahrungen, Freuden und positiven Ereignissen anderer Christen und Gemeinden zu erfahren, aber dieses Wissen darf uns nicht unter Druck setzen. Es kann sein, dass wir manche guten Erfahrungen oder Strategien von anderen Christen übernehmen können, aber es ist auch gut möglich, dass der Herr uns und unserer Gemeinde ganz andere Möglichkeiten aufzeigt, die den eigenen Gegebenheiten entsprechen. Wir erinnern uns: Ein Versager ist jemand, der nicht das Erwartete leistet. Gott setzt uns nicht unter Druck. Er erwartet von uns, dass wir unser Leben ganz unter seine Herrschaft stellen – dann können wir in seinen Augen niemals Versager werden. Und das Besondere daran ist, dass er uns sogar den Willen zur Lebenshingabe an ihn schenkt. Was wäre, wenn ich die Schule und das Studium tatsächlich nie abgeschlossen hätte? Oder wenn ich wirklich noch ledig wäre? Oder keine Kinder hätte? Und was ist mit allen Dingen, die ich tatsächlich nicht erreicht habe und voraussichtlich auch nie mehr erreichen werde? Wäre ich dann ein Versager bzw. bin ich deswegen einer? Vielleicht in den Augen mancher Menschen, aber niemals vor Gott ... und aus diesem Grund werde ich Gott bitten, dass diese Versagensträume nicht mehr wiederkehren. Sie widerspiegeln mein «altes» Denken, das von dem Gedanken geprägt war, der Wert meines Lebens sei davon abhängig, was ich leiste und erreiche. Welch eingebildeter Gedanke, wenn man auf den Segen blickt, der oft von Schwerkranken oder Behinderten oder Kindern ausgeht! Ein treuer Diener Gottes ist kein Versager, auch wenn seine Leistung in den Augen der Welt eine minimale ist. «Es kommt nicht darauf an, was wir sind, sondern WIE wir es sind» Autorin: Roswitha Wurm
Immer nur Leistung?
Wettbewerb ein Teil des Daseins?
Auf Gott vertrauen!
Gefangen vom Leistungsdruck dieser Welt
In Gottes Händen
Datum: 13.02.2003
Quelle: Ethos