Überlieferungen (Traditionen)

Jesus wurde verklagt wegen Antastens der Traditionen

Es ist überraschend, dass das Neue Testament ausdrücklich von Traditionen spricht. Die damaligen Frommen sind unzufrieden, weil die Jünger Jesu mit ungewaschenen Händen essen. Die Frage, die sie an Jesus richten, übersetzt Luther: »Warum über­treten deine Jünger die Satzungen der Ältesten?«

Im Griechi­schen steht der Ausdruck: paradóseis, und das entspricht genau dem lateinischen: Traditionen. »Warum verletzen deine Jünger die väterlichen Traditionen?« (Matth. 15,2-9; Mark. 7,1-13).

Jesus zeigt in seinem ganzen öffentlichen Wirken Achtung vor den bestehenden Sitten und Traditionen. Er weiss ihre bewah­rende und ordnende Macht wohl zu schätzen. Er stellt sich mitten hinein in die Ordnungen des Tempels und der Synagoge. Wo es irgend geht, rüttelt er nicht an Traditionen.

Die Tradition, die Überlieferung menschlicher Bestimmungen und Erklärungen, scheint die rechte Deutung der Schrift zu gewährleisten, führt aber auf die Länge zu ihrer völligen Sinnentleerung

Aber eins kann er den Traditionen nicht zugestehen: Es darf nicht dahin kommen, dass man mit Hilfe von Traditionen dem göttlichen Gesetz seinen Sinn gibt.

Das Gesetz bedarf zu allen Zeiten der Deutung; es muss etwas da sein, was darüber ent­scheidet, wie die Bibel auszulegen ist, wie ihre Worte anzuwen­den sind. Und dieses Etwas muss fest dastehen. Es muss derart sein, dass nicht jeder kommen und am Gesetz Gottes rütteln kann. Welche Macht kann das tun, kann vor Willkür und Um­sturz bewahren?

Die damaligen Theologen und Kirchenmänner sagten: die Tradition. Einzig und allein das, was von den Vätern überliefert ist, kann die Bibel und den Gottesdienst vor frecher Profanierung schützen. Je stärker im Lauf der Jahrhunderte Mächte des Umsturzes an den Kirchentüren rütteln, um so fe­ster hält man an der Tradition, um so mehr sucht man bis ins einzelne die Deutung des Bibelwortes festzulegen. Und die Fol­ge? Das Bibelwort hat seinen Sinn nicht behalten. Es ist völlig seines anfänglichen Sinnes entleert.

Das göttliche Gesetz ist nicht vor Willkür geschützt, sondern es ist von Menschensat­zungen überwuchert bis zu seiner völligen Unkenntlichkeit. Gottes Gebot will dem Menschen in der Woche einen Ruhetag schenken. Man hat durch Hunderte von Vorschriften, was an diesem Tag erlaubt und was unerlaubt sei, den Tag mit Unruhe und Angst erfüllt. Gottes Gebot stellt in den Mittelpunkt menschlichen Zusammenlebens als bewahrende Macht die Ehr­furcht vor den Eltern.

Diesen Grundpfeiler hat man umgestürzt durch eine »geheiligte« Tradition, die fromme Stiftungen über die Sohnesliebe stellt (Matth. 15,2ff.). Gottes Gebot heiligt die Ehe. Die Tradition hat den Ehescheidungen Tor und Tür geöffnet (Matth. 19,9). Das »Feste« war nicht fest, die »Deutung« keine Deutung, der »Schutz« ein freches Antasten.

Nur die immer erneute Offenbarung kann den göttlichen Sinn des Bibelwortes erschliessen

Was kann denn dem Gesetz die Deutung geben, das Bibelwort mit Sinn erfüllen, das Leben vor dem drohenden Untergang retten? Die Antwort lautet: Nicht alte kirchliche Traditionen, sondern neue göttliche Mandate (Aufträge, Vollmachten), nicht Dogmen, sondern Offenbarungen; nicht vermehrte Einzelbe­stimmungen, sondern eine grosse, neu geschenkte Klarheit.

Die göttliche Offenbarung steht vor der Tür einer erstarrten Kirche. Aber die Kirche hat ihre entgöttlichten Zustände so umzäunt mit Traditionen, sie tritt mit so viel »Treue«, mit solcher In­brunst für ihre »heiligsten Güter« ein, sie forscht mit solchem Eifer in der einstigen Offenbarung, dass sie für die heutige gar kein Ohr hat. Sie ist, wenn es nicht anders geht, bereit, zu jedem Gewaltmittel zu greifen, damit nur nicht die nahe Gottesfülle durch ihre Zäune breche.

Jede neue Offenbarung muss jedoch geprüft werden, ob sie »Christus treibt«* als den Mensch geworde­nen Erlöser (1. Joh. 4,2).

* ein Zitat von Martin Luther (Lothar Mack, Livenet)

Datum: 09.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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