Warum die Liebe das Grösste ist
Während meiner Arbeit als Krankenschwester und Seelsorgerin durfte ich schon in die unterschiedlichsten Lebensgeschichten blicken. Leben voller Freude, Schmerz, Hoffnung – und auch Verzweiflung. Dabei begegnen mir immer wieder Menschen, deren Lebensumstände von aussen beurteilt werden. Besonders spüre ich eine Frage, wenn Eltern ein Kind mit einer Behinderung willkommen heissen. Oft in dem Wissen, dass der Weg nicht leicht sein wird. Manche fragen dann: Warum tun sie sich das an?
Mich schmerzt diese Frage zutiefst. Wenn Menschen in Frage stellen, ob ein Leben mit Behinderung lebenswert ist, macht mich das sehr traurig. Und ich frage mich: Was macht denn das Leben lebenswert?
Es gibt Menschen, die haben alles, wovon andere nur träumen können: Erfolg, Geld, Gesundheit, ein schönes Zuhause. Und dennoch, trotz all dieser scheinbaren «Vollkommenheit», empfinden sie das Leben als unerträglich. Manche entscheiden sogar, es zu beenden. Auf der anderen Seite habe ich Menschen getroffen, die mit schweren Schicksalsschlägen kämpfen, die mit Verlust, Krankheit oder Einschränkungen leben müssen, und doch strahlen sie eine Wärme und Zufriedenheit aus, die man kaum in Worte fassen kann. Da frage ich mich: Was fehlt bei den einen und was ist bei den anderen da? Was ist dieses «Etwas», das das Leben lebenswert macht?
Schock und wortlose Liebe
Durch meine Arbeit in einem Zuhause für Menschen mit Behinderung lernte ich ihre Geschichten kennen. Eines Abends ging es mir nicht gut. Ich war auf dem Weg zur Nachtschicht im Heim und draussen war es eisig kalt. Da rutschte ich mit dem E-Roller aus und fiel zu Boden. Ich stand unter Schock und hatte nicht gerade Lust zu arbeiten. Doch ich wusste: Ich musste meine Arbeiten diese Nacht erledigen, damit die Menschen dort nicht allein sind und die nötige Hilfe bekommen. Ich trat also meinen Dienst an und war den Tränen sehr nahe. Als ich dann einer Bewohnerin half, ins Bett zu gehen, da strich sie mir über den Arm und lächelte mich an. Ohne Worte. Aber dieser Moment war voller Liebe. Sie spürte vermutlich meine Traurigkeit und gab mir daraufhin ihre Liebe. Das war eine sehr berührende Situation für mich und ich erinnerte mich an einen meiner Lieblingsbibelverse: «Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die grösste unter ihnen» (1. Korinther Kapitel 13, Vers 13).
Die Quelle von allem
In der christlichen Perspektive, aber auch in vielen anderen spirituellen und philosophischen Traditionen, wird die Liebe als eine fundamentale Kraft betrachtet, die das Leben und die Welt im Kern zusammenhält. Liebe verleiht Sinn, weil sie über den blossen Moment hinausgeht und tiefere Verbindungen zwischen Menschen schafft. Sie ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine treibende Kraft, die unser Handeln, unsere Entscheidungen und unsere Beziehungen leitet. Ohne Liebe verlieren sogar Glaube und Hoffnung an Tiefe, weil sie nur dann authentisch und lebendig bleiben können, wenn sie von der Liebe durchdrungen sind. Liebe gibt den Handlungen und Werten Bedeutung, sie macht sie zu einem lebendigen Ausdruck des Menschseins.
Wenn man sagt, dass «die Liebe die grösste unter ihnen ist», könnte man auch sagen, dass Liebe die Quelle von allem ist, was Bedeutung hat. Sie ist das Bindeglied, das uns sowohl zu anderen Menschen als auch zu einem höheren Sinn führt. Glaube ohne Liebe könnte zu einer trockenen Dogmatik verkommen, und Hoffnung ohne Liebe könnte in Verzweiflung enden. Liebe gibt all dem eine Richtung und einen tieferen Sinn – sie ist das, was letztlich alles lebendig und bedeutungsvoll macht.
Tausend Facetten
Wie spielt sich das ab, dass Liebe allem einen Sinn gibt? Manchmal zeigt sich Liebe in einem Lächeln, das man schenkt. Manchmal in einer wortlosen Umarmung, die mehr sagt als tausend Worte. Liebe ist einfach da. Sie kann zwischen Fremden, Bekannten, Freunden, Familie, Liebenden geschehen. Liebe kennt viele Formen und Zeiten. Liebe ist da, wenn Eltern unermüdlich für ein Kind kämpfen, wenn ein Freund oder eine Freundin in der schwersten Stunde bleibt, wenn man einem anderen Menschen hilft, ohne etwas dafür zu erwarten. Liebe ist nicht perfekt. Sie kann leise und unscheinbar sein oder auch laut, wild und unberechenbar. Sie leuchtet in tausend Facetten. Liebe ist das, was uns trägt, was uns auffängt, wenn alles andere zu zerbrechen droht.
Ich glaube, das Gegenteil von einem lebenswerten Leben ist nicht Leid, sondern das Gefühl von Sinnlosigkeit. Aber kein Leben war je sinnlos. Nicht immer erkennen wir den Sinn. Aber im Herzen darf sich das Gefühl der Liebe ausbreiten, auch wenn der Verstand nicht alles nachvollziehen kann. Dabei zeigt sich Liebe in so vielen Formen. Für manche ist es die Freude an der Natur, das Lachen eines Kindes, die Hand eines geliebten Menschen, die niemals loslässt. Für andere ist es die Erfüllung in ihrer Arbeit, ein kreativer Funke, der sie antreibt, oder der Trost eines stillen Gebets. Doch am Ende führt alles auf dasselbe hinaus: Liebe verbindet.
Nicht perfekt, aber echt
Das Leben wird lebenswert, wenn es etwas gibt, für das unser Herz schlägt. Wenn wir das Gefühl haben, dass wir lieben und geliebt werden, in welcher Form auch immer. Ich glaube, diese Liebe ist es, die uns durch die dunkelsten Stunden trägt und uns die Kraft gibt, wieder aufzustehen. Sie ist der Grund, warum wir trotz aller Herausforderungen immer wieder Ja zum Leben sagen. Trotz Behinderungen, Krankheit, Verlusten, Tränen und Schmerz.
Liebe ist der Grund, warum wir weitermachen, warum wir kämpfen, warum wir uns trotz allem immer wieder für das Leben entscheiden. Liebe ist nicht perfekt, aber sie ist echt. Und das macht das Leben lebenswert. «Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die grösste unter ihnen.»
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Zum Thema:
All we need is love: Wie elementar Liebe ist
Bensch Sager: Was das Leben lebenswert macht
Staubkörner oder doch viel mehr?: Auf der Suche nach dem Sinn im Leben
Datum: 19.06.2025
Autor:
Simone Di Gallo
Quelle:
Magazin Faszination Bibel 02/2025, SCM Bundes-Verlag