Vollkommenheit

Die Vollkommenheit des Christen ist kein »Ideal«, sondern ist zu verwirklichen

Die Forderung der Bergpredigt: »Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (Matth. 5,48), nimmt Bezug auf das Vorhergehende. Die Jünger sollen auch die Feinde mit heissem Herzen lieben; sie sollen ebenso menschlich offen, so natürlich-heiter, so warm und freundlich sein zu den Bösen wie zu den Guten.

Diese Forderung wird meist als Ideal aufge­fasst, also als Ziel, nach dem man wohl streben soll, das man aber »selbstverständlich nie erreichen kann«; »wirkliche« Vollkom­menheit könne es im Menschenleben nun einmal nicht geben.

Was fängt man bei dieser Auslegung mit dem Schluss der Berg­predigt an: (Matth. 7,24-27) »Wer diese meine Rede hört und tut sie ... «? Die Forderungen Jesu gelten nicht für die Welt der Ideale, sondern für diese harte Wirklichkeit. Er ist kein Führer, der Befehle erteilt, damit sie unerfüllt bleiben. Was er sagt, ist unweigerlich zu verwirklichen.

Vollkommen sein heisst: transparent sein für den Lichtglanz Gottes

Gerade an dieser Stelle der Bergpredigt spricht Jesus es aus, dass seine Forderungen nicht in der Luft stehen; es gibt eine feste Grundlage für ihre Erfüllung: »Damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel« (Matth. 5,45).

Ein Sohn ist einer, der in dem innigen Lebenszusammenhang steht mit dem Schöpfer, zu dem er bestimmt ist. Solch ein Mensch ist in seiner ganzen Art, in seinem Lebensgefühl, in den Wallungen seines Gemüts vom Vater bestimmt. In ihm leibt und lebt die Liebe des Vaters; er ist transparent für das Wirken Gottes, ein Träger seiner Gegenwart, ein Instrument, auf dem der Allmächtige seine Weisen spielt. *

Sofern das der Fall ist, sofern ist der Mensch dann vollkommen. Daran ändert nicht, dass derselbe Mensch noch so manche Fehler und Schwächen an sich hat. Wenn Bach auf einer alten, ver­staubten Dorforgel spielt, bleibt es immer noch Bachs Spiel. Man wird die Mängel des Instruments zwar hören, aber man wird es doch unverkennbar wahrnehmen, dass ein gott­begnadeter Meister musiziert.

Vollkommenheit und Unvollkommenheit im Christenleben

Die Vollkommenheit, von der Jesus spricht, ist nicht die Voll­kommenheit des Instruments, sondern die Vollkommenheit des Meisters.

Und eben das ist die Forderung der Bergpredigt: Die Jünger sollen Söhne sein, sie sollen sich die Art, die Lebensim­pulse von oben holen;* sie sollen Instrumente sein, auf denen die Weisen des göttlichen Meisters erklingen. Das wird geschehen, wenn sie ein unstillbares Verlangen danach tragen (Matth. 5,3.4.6) und ohne zu zweifeln daran festhalten, dass das der einzige Sinn des Lebens ist.

Paulus sagt an der berühmten Stelle im Philipperbrief (3,12-15): »Nicht, dass ich schon vollkommen wäre.« Aber gleich darauf heisst es: »wie viele nun von uns vollkommen sind.« Beides ist einfach zu verstehen: Paulus, das Instrument, ist noch unvollkommen. Und doch fehlt die Vollkommenheit in seinem Leben nicht, weil Christus ihn schon ergriffen hat und er eben ein Instrument Christi ist.

Sein Jagen und Ringen geht darauf, dass das Instru­ment nun auch besser gestimmt und des grossen Meisters immer würdiger werde. Nie hat Paulus daran gezweifelt, dass in seinem so vervollkommnungsbedürftigen Leben doch schon etwas ab­solut Vollkommenes da ist: Christus in ihm.

* Siehe auch den Artikel zu «Sohn».

Datum: 09.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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