Sonderfall Europa

«Unsere Sicht von Säkularisierung ist überholt»

Die Welt tickt religiös und Gesellschaften modernisieren sich mit Religion. Modern leben heisst für die grosse Mehrheit, religiös zu sein. Dieser Megatrend steht im Gegensatz zum säkularen Europa, wo Unglaube sich breit macht. Der Soziologe José Casanova fordert die Europäer auf, ihren säkularen Hochmut abzulegen.
Anderswo ist Glaube modern: Religionssoziologe José Casanova.

Casanova, der in Washington Religionssoziologe lehrt, hat Säkularisierungsprozesse in verschiedenen Weltteilen verglichen. Die Europäer täuschten sich, sagte er dem Landeskirchen-Forum am Rande einer Tagung in Bern, wenn sie meinten, der Prozess der Säkularisierung verlaufe «überall vom Glauben zum Unglauben, von primitiver Religion zur Moderne». In Nord- und Südamerika und weltweit findet der Forscher das Gegenteil: Modern leben heisse für die grosse Mehrheit, religiös zu sein.

«Nicht weniger, sondern mehr Religion»

«Die europäische Sicht von Säkularisierung ist überholt», hält Casanova fest. «Zwar wurde das europäische Modell globalisiert, aber die Säkularisierung, die wir exportierten, produziert anderswo nicht weniger, sondern mehr Religion!» Denn Modernisierung bestehe für Menschen in Übersee gerade darin, «dass sie als Einzelne eine bestimmte religiöse Identität annehmen, ein religiöses Individuum werden können».

USA: Wellen des religiösen Aufbruchs

Warum unterscheiden sich Europa und Nordamerika, die miteinander den westlichen Kulturraum bilden, religiös in diesem Mass? Der gebürtige Spanier Casanova verweist auf die europäische Geschichte: «Wir Europäer erfuhren Religion als Unfreiheit, in der Enge von miteinander zerstrittenen Konfessionen. Wir wollen nun frei sein – frei von Kirche und Konfession.» Die Amerikaner dagegen hätten durch «Erweckungsbewegungen» eine Identität in Denominationen gewonnen. «Politische und religiöse Freiheit und Modernisierung gehen in Nordamerika zusammen, während wir Europäer aufgrund der Geschichte meinen, dass Religion und Modernisierung in Konflikt stehen.»

Islam fordert heraus

Der Islam fordert laut Casanova die Europäer heraus, ihre Identität zu klären. «Was sind wir? Möglich sind zwei Antworten: Wir sind säkular – oder: wir sind Christen.» Aber es genüge nicht, bloss eine Gegenidentität gegen Muslime aufzubauen, nach dem Motto: «Wir sind nicht Muslime, sondern christlich – auch wenn wir nicht glauben».

Datum: 09.10.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet / LKF

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