Der Londoner Pädagogikprofessor Gunter Kress staunte über die Schnelligkeit, mit der sein Sohn Michael strategische und taktische Entscheidungen traf. Zwölfjährige lasen auf dem Bildschirm so schnell, dass er nicht zu folgen vermochte. Ebenso perspektivenreich wie unterhaltsam widmet sich die Mai-Ausgabe des NZZ-Folio dem Thema „Computerspiele“. Dabei wird auch beleuchtet, was das dauerhafte Gamen vor dem Bildschirm bewirkt. Die Britin Alice Mitchell hat Studien aus dem angelsächsischen Raum zusammengefasst. Ein Ergebnis: „Lernende, die im Digitalzeitalter aufwachsen, sind bei weitem erfahrener und fähiger, wenn es darum geht, Informationen eilig zu verarbeiten.“ Darüber hinaus lernen Kinder, die viel spielen, Optionen unterscheiden und unverzüglich wählen. „Sofortige Rückmeldung und die risikofreie Umgebung laden zum Experimentieren ein, stimulieren Neugier, Entdeckungsfreude und Beharrlichkeit“, sagt Mitchell. Die kalifornische Psychologin Patricia M. Greenfield führt höhere Punktzahlen in IQ-Tests auf Videospiele zurück: Die Fortschritte traten ab 1972 auf – als die erste Konsole auf den Markt kam! Greenfield konnte zeigen, dass Spieler bessere räumliche, visuelle und optisch-analytische Fähigkeiten aufwiesen (zum Beispiel in der Vorstellung besser Papier falten konnten). Sind sie darum klüger? Viele habe das Spielen zum Hacken prädestiniert, sagt Greenfield – und doch bleibe unbewiesen, dass Videospielen Aufmerksamkeit fürs Wesentliche im Leben und bessere akademische Leistungen bewirke. Zwei US-Wirtschaftswissenschafter befragten 2'500 junge Berufstätige nach ihren Einstellungen und Werten. Ergebnis: Je mehr in der Jugend gespielt worden war, desto eher trat im Beruf „eine Mischung aus riskantem, ambitioniertem und zielorientiertem Verhalten zutage“. Spieler könnten auch eher vernetzt denken und sich gewandter auf Teams einstellen als nicht spielende Altersgenossen. Der deutsche Medienforscher Stefan Schmitt, Autor des Folio-Artikels, fragt spitz, ob Eltern ihre Sprösslinge mit der Playstation auf den Direktorensessel vorbereiten sollten. Warum nicht, wenn Action-Spiele die Fähigkeit erhöhen, Ursache und Wirkung aufeinander zu beziehen? Warum nicht, wenn Abenteuer- und Simulationsspiele anregen zum Vorausdenken und Hypothesen aufstellen? Laut Schmitt geraten pädagogische Lernspiele, die nicht auf Action oder Spannung setzen und nicht in eine faszinierende virtuelle Realität entführen, auf dem Markt ins Hintertreffen. Der nicht Video spielende Leser erinnert sich daran, dass Kinder neben visuellen Fähigkeiten und Risikofreude auch Verantwortung und Sensibilität für Mitmenschen lernen und trainieren sollten. Auf andere Menschen eingehen erfordert Zeit, Zuhören (mehr noch als Ansehen) und nochmals Zeit. Wer bringt den Spielern bei, dass die Wirklichkeit sich der Reduktion auf drei Dimensionen entzieht und unsagbar hintergründiger und komplexer ist, als wir wahr haben wollen? Und dass einmal Zerstörtes sich nicht wie am Bildschirm wieder zusammensetzt? Die letzten Wochen haben wieder in Erinnerung gerufen, dass 60 Jahre nach Auschwitz die Erinnerung nicht sterben darf… Angesichts des Raubbaus an der Natur haben die Grosskirchen vor Jahren die „Bewahrung der Schöpfung“ als Hauptaufgabe der Menschen bestimmt. Davon dürfte das passionierte Gamen nachhaltig ablenken, denn es lässt die Initiative in virtuelle Welten ausgreifen. Was nützt vernetztes Denken am falschen Ort? Aug in Auge mit der Maschine? Das geht nur mit einem Menschen. Die virtuellen Gegner kann man mit einem Zucken des Fingers erledigen – mit den realen Widersachern muss man leben. Da wäre von jenem Fürsten zu lernen, der seine Feinde überwand, indem er sie sich zu Freunden machte…Das Hirn schaltet schneller
Risikofreudig und rasch entschlossen
Räume analysieren
„Gewinnen ist alles“
Playstation als Katapult in die Karriere?
Bleibt die Sensibilität auf der Strecke?
Zu trainieren wäre auch Rücksicht
Datum: 08.06.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch