Der Stoff, aus dem die Träume sind
Mit einer Länge von über sechseinhalb Stunden wurde in diesem Herbst eine vierteilige Verfilmung des literarischen Bestsellers «Die Säulen der Erde» von Ken Follett im Fernsehen gezeigt. Schon bei der Ausstrahlung des ersten Teils sassen mehr als acht Millionen Menschen vor dem Bildschirm, um dieses mittelalterliche Spektakel um den Bau einer Kathe-drale zu verfolgen. Dies ist nur eine von vielen Buchverfilmungen der letzten Zeit.
Faszination Buchverfilmung
Was macht die Faszination von Buchverfilmungen aus? Sergio Mimica-Gezzan, Regisseur von «Die Säulen der Erde», sagte im November in einem Interview mit «Spiegel Online»: «Unser Leben ist heute sehr stressig, immer mehr Informationen prasseln auf uns ein. Es fehlt uns die Zeit, grosse tolle Erfahrungen zu machen, die ausserhalb des normalen Alltags stattfinden. Der Erfolg von ‚Die Säulen der Erde’ zeigt, dass die Menschen das Bedürfnis haben, Grossartiges zu erleben. Natürlich ersetzt ein Roman nicht solche Erfahrungen, aber er versetzt uns in eine andere Zeit.» Mimica-Gezzan bringt es auf den Punkt: Was wir selber in der Realität an Grossartigem nicht erleben können, verschafft uns das Lesen von Büchern: hier können wir in Abenteuer aus vergangenen Zeiten eintauchen. Diese Erfahrung wird mit den Filmen und ihrer Bildsprache fortgesetzt – oder sogar ersetzt. Wohl die wenigsten Zuschauer haben das Buch «Die Säulen der Erde» mit einer Länge von 1165 Seiten tatsächlich gelesen.
Die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und Abenteuern gibt es auch unter Christen. Zumindest in den Fernseh-Redaktionen scheint man daran zu glauben. So wurde in den Vereinigten Staaten eine Romanreihe der christlichen Bestsellerautorin Jeannette Oke verfilmt, und zwar von Michael Landon jr., dem Sohn des verstorbenen Schauspielers und Produzenten Michael Landon. Im April ist mit «Liebe wird wachsen» der erste Teil des Romans in deutscher Sprache bei uns auf DVD erschienen. Erzählt wird in dieser Reihe aus dem Leben einiger Menschen während der Zeit des Wilden Westens. Landon verfilmt zur Zeit einen Roman der christlichen Autorin Beverly Lewis über das Leben bei den Amischen, die mit ihrer Lebensart aus einer vergangenen Zeit viele Menschen faszinieren.
Sehnsucht nach der Vergangenheit
Wie sich solche Sehnsüchte filmisch umsetzen lassen, hat auch die englische BBC im Jahr 2008 mit ihrer vierteiligen Fernsehproduktion «Lost in Austen» gezeigt, die auch vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlt worden ist und jetzt als DVD vorliegt.
Die junge Amanda Price, gespielt von Jemima Rooper, hat in der heutigen Zeit kein Glück: Sie muss sich mit nervigen Kunden herumschlagen, wird angerempelt und mit der Liebe klappt es auch nicht. Höflichkeit und Ritterlichkeit scheinen heutzutage keine Rolle mehr zu spielen. Um diesem täglichen Frust zu entkommen, liest Amanda immer wieder «Stolz und Vorurteil» von Jane Austen. Sie sehnt sich danach, in diese vergangene Welt einzutauchen. Tatsächlich landet sie eines Tages durch eine geheime Tür in ihrem Badezimmer in der Welt ihres Lieblingsbuches, erlebt Abenteuer und findet im berühmten Romanhelden Mr. Darcy die Liebe ihres Lebens, während Eli¬zabeth Bennet, die Heldin des Buches, sich dafür in der heutigen Welt zurechtfinden muss.
Fazit: In einer Welt, die sich laufend verändert, ist die Sehnsucht vieler Menschen nach einem überschaubaren Ort sehr gross. Ein Ort, wo man zuhause ist, Abenteuer erlebt und wo gut und böse klar definiert sind. Von vielen wird die Vergangenheit als Ort dieser Sehnsucht angesehen und glorifiziert, so auch von vielen Christen. Dass die Vergangenheit genauso viele Probleme hatte, einfach andere als heute, wird dabei ausgeblendet. Denn mal ehrlich: Wer möchte heute wirklich noch im Mittelalter leben, wo die durchschnittliche Lebenserwartung bei etwa 35 Jahren lag?
Andy Schindler-Walch ist Filmspezialist und bespricht Filme in Zeitschriften und für Radio Life Channel.
Datum: 26.04.2011
Autor: Andy Schindler-Walch
Quelle: Magazin INSIST