Die Macht der (guten) Gewohnheiten
Es ist Montagmorgen. Wie üblich steige ich ins Auto, um Besorgungen zu machen. Während der Fahrt denke ich über irgendetwas intensiv nach und stehe plötzlich vor dem ALDI. Auf einmal durchzuckt es mich: Was machst du denn hier? Du wolltest doch zum Baumarkt! Während ich gedanklich beschäftigt war, hat ein Teil von mir das Auto dahin gelenkt, wo ich sonst montags einkaufen gehe. Es geschah aus reiner Gewohnheit.
Eine andere Situation: Ich sitze mit meiner Frau abends gemütlich vor dem Fernseher. Während einer Pause gehe ich wie von allein in die Küche, um etwas Süsses zu holen – obwohl ich eben erst gut zu Abend gegessen habe und eigentlich keinen Hunger verspüre. Es ist einfach nur Gewohnheit.
Die «Macht der Gewohnheit» ist sprichwörtlich. Schon der Kirchenvater Augustinus klagt darüber und beschreibt seine schlechten Gewohnheiten als Ketten, die ihn gefangen halten.
Gewohnheiten können ein Problem sein. Sie können aber auch die Lösung sein. In der Sozialpsychologie kam es vor einigen Jahren zu einer Wiederentdeckung der Gewohnheiten. Forscher haben festgestellt, dass die Bildung von Gewohnheiten, die Habit Formation, dazu führen kann, dass Menschen ein erwünschtes Verhalten tatsächlich dauerhaft beibehalten. Wenn Leute zum Beispiel mehr Sport machen oder weniger Süsses essen wollen, dann helfen gute Vorsätze nur bedingt. Eine Zeit lang schafft man es, aber sobald das Leben stressig wird, fällt man in die alten Muster zurück. Die Entwicklung von neuen Gewohnheiten kann das ändern.
Neue Trampelpfade
Was sind eigentlich Gewohnheiten und wie entstehen sie? Wenn wir eine bestimmte Handlung mehrfach wiederholen, bilden sich im Gehirn neue Synapsen. Es entstehen so etwas wie Trampelpfade, die mit jeder Wiederholung breiter werden. Das Verhalten wird immer leichter und flüssiger. Irgendwann braucht es gar nicht mehr unsere bewusste Aufmerksamkeit, sondern läuft quasi automatisch ab. Neurowissenschaftler haben festgestellt, dass bei Gewohnheitshandlungen tatsächlich andere Netzwerke im Gehirn aktiviert sind als bei Sachen, die wir mit vollem Bewusstsein tun. Deswegen können wir Auto fahren und gleichzeitig ein intensives Gespräch führen, können duschen und zugleich über die Predigt am Sonntag nachdenken.
Eine weitere Besonderheit von Gewohnheiten: Ist ein Verhalten erst einmal habituiert, also zur Gewohnheit geworden, dann kostet es keine grosse Anstrengung mehr. Es ist kein Widerstand zu überwinden. Denke nur mal an dein tägliches Zähneputzen! Dafür musst du dich nicht mühsam aufraffen, sondern machst es wie von allein. Hier liegt die grosse Chance! Ein Verhalten, das zur Gewohnheit geworden ist, ist stabil und läuft wie von allein.
Die Bildung einer neuen Gewohnheit braucht allerdings Zeit. In einem Experiment wurden Probanden aufgefordert, ein von ihnen erwünschtes Verhalten (zum Beispiel ein Stück Obst essen oder eine gymnastische Übung machen) täglich auszuüben. Dabei kam heraus, dass es zwei bis drei Monate dauert, bis das Verhalten tatsächlich habituiert ist. Wichtig ist dabei, dass dieses Verhalten in immer der gleichen Situation – die Fachleute sprechen da vom «Kontext» – durchgeführt wird, also beispielsweise immer nach dem Mittagessen oder immer vor dem Schlafengehen. Der Kontext wird irgendwann zum Auslöser, der das Verhalten wie von allein ablaufen lässt.
Wie stabil unsere Gewohnheiten sind, hat ein anderes Experiment gezeigt: Man hat Leuten, die es gewohnt sind, im Kino Popcorn zu essen, beim Filmschauen mal frisches und mal altes, fahles Popcorn gegeben. Erstaunlicherweise haben die Menschen vom alten genau so viel wie vom frischen gegessen, obwohl sie gemerkt haben, dass es nicht schmeckt. Der Kontext (Kino) bestimmte ihr Verhalten – unabhängig von der Qualität des Produkts.
Eine schlechte Gewohnheit können wir nicht durch einen einmaligen Vorsatz aushebeln, sondern nur – auch das hat die Habit-Forschung deutlich gemacht –, indem wir die unerwünschte Gewohnheit durch eine neue, erwünschte überschreiben. Wenn du also abends vor dem Fernseher nichts Süsses mehr essen willst, solltest du den Essensdrang nicht einfach unterdrücken, sondern dir angewöhnen, Möhrensticks statt Schokolade zu futtern.
Jeden Morgen wieder: meine Gebetsecke
Aus der aktuellen Forschung der Sozialpsychologie können wir interessante Einsichten für unser Leben als Christen gewinnen. Ich kenne eine ganze Reihe von Menschen in der Gemeinde, die gern mehr Zeit für das Gebet finden würden, aber es nicht umgesetzt kriegen. «Ich habe einfach nicht die Zeit und Ruhe dafür», wird dann meist gesagt.
Die Bildung einer guten Gewohnheit kann hier eine entscheidende Hilfe sein. Wenn du dir jeden Tag neu überlegen musst, ob und wann du betest, wird es kaum klappen. Es kommt immer etwas dazwischen und die Widerstände sind zu gross. Aber wenn du es dir zur täglichen Gewohnheit machst, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort in Kontakt mit Gott zu treten, wird es irgendwann ganz leicht.
Ich habe in meinem Arbeitszimmer eine Gebetsecke: eine Kniebank, ein kleiner Tisch mit Bibel, Stift und Tagebuch, eine Kerze, ein Bild. Jeden Morgen, wenn ich das Zimmer betrete, gehe ich als erstes dorthin, meditiere einen Bibeltext, schweige und bete. Es ist inzwischen so habituiert, dass es überhaupt keine Überwindung kostet, sondern wie von selbst geht. Im Urlaub dagegen oder wenn ich woanders arbeite, fällt es mir viel schwerer.
Vielleicht bekommen manche Leserinnen und Leser gerade ein ungutes Gefühl. Vielleicht gab es Menschen, die dir ein schlechtes Gewissen gemacht haben, wenn du deine «Stille Zeit» nicht eingehalten hast. Vielleicht hast du dir selbst Druck gemacht und warst oft frustriert, weil es nicht klappte. Vielleicht hast du deshalb inzwischen das Dringen auf Regelmässigkeit bei geistlichen Übungen unter der Rubrik «gesetzlich» einsortiert.
Aber mit der Regelmässigkeit beim Beten ist es wie mit dem Zähneputzen. Es ist eine Hilfe für dich selbst. Du brauchst damit nicht Gott zu beeindrucken oder irgendwelchen Leuten etwas zu beweisen, sondern machst es dir selbst leichter! Feste Gewohnheiten bei Gebet, Schriftmeditation, Tagebuchschreiben oder anderen geistlichen Übungen sind der beste Weg, um Gott mehr Raum in deinem Alltag zu geben. Wenn du also in intensiveren Kontakt mit Gott treten willst, überlege dir eine bestimmte Zeit dafür und mache es dir so einfach wie möglich! Richte dir einen Gebetsort ein, lege Tagebuch und Stift bereit, informiere deine Familie darüber! Statt sich allzu viel vorzunehmen, sollte man lieber mit einer kurzen Zeit anfangen und die dann allmählich ausbauen.
Wenn eine geistliche Übung zur Gewohnheit wird, birgt das allerdings auch eine Gefahr. Wir sahen ja, dass gewohnte Handlungen oft nur halbbewusst ablaufen. Manchmal bemerke ich beim Beten plötzlich, wie mein Mund Worte sagt, die ich gar nicht mit Herz und Bewusstsein meine. Das Gewohnte kann zur hohlen Form werden. Die Lösung liegt, glaube ich, nicht darin, die Gewohnheit aufzugeben, sondern ab und an zu variieren – neue Worte, Formen, Abläufe einzubauen und immer wieder die spazierengehenden Gedanken zum Zentrum zurückzuführen.
Eins meiner Lernfelder
Gewohnheiten können also eine Hilfe sein, um geistliche Praktiken zu verstetigen, die uns in unserer Beziehung zu Gott guttun. Sie helfen aber auch in anderen Bereichen, unser Leben als Christen zu gestalten. Wenn wir anfangen, Jesus nachzufolgen, tun wir das ja nicht mit einer leeren Festplatte im Kopf. Unser Denken und Fühlen, unser Werten und Agieren ist durch jahrelange Übung in einer bestimmten Weise automatisiert. Wir stecken voller Habits. Wenn wir Jesus erlauben, unser Leben in seinem Sinne zu verändern, geht es meist um ein Umlernen: Meine Mitmenschen nicht mehr verbiestert anblicken, sondern ihnen mit Freundlichkeit begegnen. Mit meinen Sorgen nicht mehr Karussell fahren, sondern sie an Gott abgeben. Stille ertragen statt nervös zum Handy greifen. Auf Kritik nicht aggressiv reagieren, sondern sie mit Demut annehmen. Immer wieder geht es darum, alte Habits durch jesusgemässe Verhaltensweisen zu überschreiben.
Seit ein paar Wochen versuche ich, eine neue Gewohnheit zu entwickeln. Auf dem Weg in die Stadt komme ich regelmässig an einer Passage vorbei, wo Obdachlose sich treffen. Manche verkaufen eine Zeitschrift. Manche bitten um Geld. Manche sitzen einfach da und unterhalten sich. Ich möchte diesen Menschen mit mehr Respekt und Aufmerksamkeit begegnen als ich es bisher tue. Deshalb habe ich mir vorgenommen, sie beim Vorbeigehen bewusst anzuschauen und zu grüssen. Es geht mir noch immer etwas gegen den Strich. Intuitiv vermeide ich bei bettelnden Menschen den Blickkontakt. Aber ganz allmählich wird es leichter und die Gesichter werden vertrauter. Die Gewöhnung an ein neues Verhalten braucht Zeit und Übung, aber in Trippelschritten geht es voran.
Das wusste übrigens schon Aristoteles. Der griechische Philosoph hat um 400 vor Christus Gedanken zur Gewohnheitsbildung formuliert, die erstaunlich aktuell sind. Er war der Überzeugung, dass wir durch wiederholtes Handeln nicht nur bestimmte Praktiken in den Alltag einbauen, sondern auch unseren Charakter prägen können. Mutig werden wir nicht, so sagt er, indem wir über Mut nachdenken, sondern indem wir mutig handeln. Gerecht werden wir, indem wir immer wieder gerecht agieren. Die regelmässigen Taten formen eine innere Neigung. Das griechische Wort, das Aristoteles für diese Neigung verwendet (Hexis) wurde im Lateinischen mit Habitus übersetzt. Daraus ist wiederum das englische Habit entstanden. Ein Habit oder eine Gewohnheit meint also ursprünglich kein halbbewusstes Verhalten, sondern eine innere Neigung, einen Charakterzug.
Der Philosoph war ziemlich optimistisch. Er meinte, durch gute Gewohnheiten können wir uns zu perfekten Menschen machen. Die Bibel ist da nüchterner. Wir können uns die Sünde nicht ab- und die Heiligkeit nicht antrainieren. Dafür steckt uns das Böse zu tief in den Knochen. Aber mit Gottes Hilfe, motiviert von seiner Liebe, geschoben von der Kraft seines Geistes, können wir die ein oder andere Macke ablegen und neue Gewohnheiten entwickeln. Und hin und wieder wird dann in unserem Verhalten der Charakter von Jesus aufblitzen.
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Datum: 21.12.2025
Autor:
Steffen Tiemann
Quelle:
Magazin Aufatmen 4/2025, SCM Bundes-Verlag