Buch von Georges Morand

Mach Dünger aus deinem Mist

Unser eigenartiger Umgang mit Fehlern und Schwächen raubt uns Risikofreudigkeit und Kreativität. Aber ohne gesunde Fehlerkultur werden wir krank. Wir dürfen unsere Schattenseiten nicht zudecken.
Pflanzen-Sprössling in gedüngter Erde
Georges Morand
Verlierer

Häufig schaue ich mit Bangen auf den Umgang unserer Gesellschaft mit den Schattenseiten des Lebens. Der Philosoph Wilhelm Schmid beschreibt diesen so: «In unserer Gesellschaft wird die Lust maximiert, Leid und Schmerz dagegen werden mit allen Mitteln minimiert.» Am besten, so meint man, sollte das ganze Leben aus einem einzigen Kick bestehen: Alles muss spannend, unterhaltsam, aufregend sein, und das möglichst durchgehend. Dagegen halten wir Niederlagen, Schmerzen und Leid schlecht aus und versuchen, sie mit aller Macht von der Bildfläche unseres Lebens zu verdrängen. Doch zu einem erfüllten Leben ist ein «ausgeglichenes» Verhältnis zwischen Freud und Leid, Glück und Unglück notwendig. Es ist wichtig, unsere Schattenseiten offen anzusehen, sich ihnen zu stellen und in das eigene Leben zu inkludieren.

Schattenseiten verstecken und Makel retuschieren

Wir versuchen zu leben, als ob unser Dasein nie zu Ende gehen würde. Vieles, was mit Sterben und Endlichkeit zu tun hat, delegieren wir an Fachleute in Krankenhäusern und Altersheimen und sind froh, wenn wir nicht daran erinnert werden. Na ja, wenden Sie vielleicht innerlich ein, wer liebt schon Schattenseiten? Und wer bitte schön mag es schon, wenn etwas Schönes zu Ende geht? Mit diesem Einwand haben Sie natürlich recht. Niemand mag Grenzen und Unmöglichkeiten. Aber das ändert nichts daran, dass sie nun mal existieren. Es gibt sie einfach, ungefragt. Wir tun also gut daran, wenn wir ein neues Verhältnis zu den Schattenseiten des Lebens entwickeln.

Wenn Begrenztheit nämlich nicht sein darf, löst das eine Kettenreaktion auf die Haltung zu vielen Tatsachen und Geschehnissen im normalen Leben aus. Was nicht perfekt ist, muss angepasst, verändert, vertuscht, versteckt, weggemacht werden – koste es, was es wolle. Auch wenn wir, ganz schön vorlaut, sagen: Nobody is perfect, glauben wir doch, dass Fehler oder Niederlagen nicht sein sollten.

Wir halten die «Wirklichkeit» schlecht aus und idealisieren die Sonnenseite. Der Zeitschriftenmarkt und die Werbebranche sind exemplarisch dafür. Die Bilder werden bearbeitet, auf den Covern wirken alle schlanker, sind faltenlos und ohne Leberflecken. Mit ein paar Klicks wird die Wirklichkeit «verbessert». Offenbar ist sie nicht schön genug. Natürlichkeit ist zu fehlerhaft. Originalität wird vereinheitlicht. Ist das nicht eine gesellschaftliche Verlogenheit, die uns systematisch suggerieren will, dass wir so, wie wir sind, nicht genügen? Wir bekommen ständig gesagt, dass wir besser, schöner, intelligenter, schneller, mutiger, muskulöser, gesünder und straffer sein sollen. So werden wir mehr und mehr unzufrieden, und Hersteller von Beauty-Produkten, Schönheitschirurgen und Fitness-Ketten machen daraus ein Milliardengeschäft.

«Im höheren Kader darfst du keine Schwächen zeigen»

Dieser Grundtenor ist in allen Lebensbereichen, allen Branchen der Wirtschaft, in Politik und Medien zu beobachten. Nullwachstum ist katastrophal, Führungsschwächen gibt es nur bei den anderen, Beschönigung der Finanzen, kurzfristige Entscheidungsperspektiven, Reorganisation alle zwei bis drei Jahre, Vertuschen und Abschieben sind an der Tagesordnung. Wo Grenzen, Flauten oder Tiefschläge nicht sein dürfen, sind Botox, geschönte Bilanzen und Co. der Rettungsanker. Zumindest so lange, bis alles auffliegt.

Die Langzeitfolgen sind verheerend: Psychische Leiden, Hektik, Stress, Druck, Burnout und Erholungsunfähigkeit nehmen zu. Die Liste liesse sich unendlich verlängern. Da sagt mir eine Führungskraft: «Vor 20 Jahren habe ich meine Gefühle ausgeschaltet. Im höheren Kader darfst du keine Schwäche zeigen.» Seine Finanzen und seinen Status betreffend machte ihn diese Entscheidung sehr erfolgreich. Sein Selbst, seine Seele und seine Gefühle allerdings waren weggeschlossen und verkümmerten langsam. Viele Signale seines Körpers und seiner Psyche, die ihn schon länger darauf aufmerksam hätten machen sollen, wurden ignoriert. Aber irgendwann war Schluss. Eine tiefe Müdigkeit machte sich breit. Plötzliche Panikattacken, Zweifel und Ängste häuften sich.

«Ich will den Job nicht verlieren»

Mit dreifacher Anstrengung und dem festen Vorhaben, sich «ja nichts anmerken zu lassen», versuchte er, alles im Griff zu behalten. Nachts war er wach, tagsüber schläfrig und unproduktiv. Die Erschöpfungsgefühle nahmen zu, die Batterie leerte sich immer schneller und liess sich kaum mehr laden. Der Teufelskreis war perfekt. Die Lebensressourcen waren aufgebraucht. Verlierer waren alle: er, seine Ehe, seine Familie, die Firma, die Gesellschaft. Muss das sein? Ist das erstrebenswert? Wollen Sie das? Wollen wir als Gesellschaft das? Wir brauchen eine Neubesinnung auf Werte, die das Leben stärken und es nicht verunmöglichen und ausmerzen. Wäre es nicht genial und befreiend, wenn wir der Begrenztheit auch etwas Gutes abgewinnen könnten? Die verdrängte Schattenseite frisst masslos an unseren Energiereserven. Kräfte, die wir besser für das Leben, für Leichtigkeit und Freiheit einsetzen könnten.

Wenn die ganze Wahrheit freimacht

Da wurde ich vor einem Vortrag dem Publikum vorgestellt. Der Moderator trug mit meinen Erfolgen dick auf. Auch wenn diese einseitige Bauchpinsel-Einführung meinem Ego schmeichelte, war mir doch sehr unwohl dabei. Denn Idealisierung macht einen zum Egozentriker. Einseitiges Herausstellen der Sonnenseite schafft Distanz zu anderen, baut ein eigenes Gefängnis auf, und jeder Fehler wird dann böse sanktioniert. Mir war klar, dass alle Zuhörer – ebenso wie ich – Sonnen- und Schattenseiten besassen und höchstwahrscheinlich eine Woche mit Erfolgen und Misserfolgen, mit Zärtlichkeiten und Faustschlägen, mit «Wows!» und Bauchlandungen hinter sich hatten. Also ging ich nach vorne, bedankte mich für die Begrüssung und sagte: «Da gibt es noch eine andere Seite von Georges Morand…» Die Spannung im Raum stieg. Ich zählte einige meiner Schattenerlebnisse auf. Von der Scheidung, der Behinderung meines Kindes. Plötzlich herrschte absolute Stille. Ich hatte die Aufmerksamkeit meiner Zuhörer. Für den Rest des Vortrages herrschte eine seltene, aber sehr erfüllte und produktive Stimmung – angefüllt mit einer echten Offenheit, unkompliziert, herzlich und voller Erwartung. Einfach deshalb, weil alle wussten: Hier redet jemand, der stinknormal ist.

Ist Gott verantwortlich für meinen Lebensmist?

Vor einigen Monaten wurde ich in einem Interview gefragt: «Sie haben als Kind Gewalt erlebt, haben einen behinderten Sohn, Ihre Ehe ist gescheitert, Sie waren arbeitslos … Wie können Sie noch an einen Gott glauben?» Ich nutzte die Gelegenheit, um auf ein Missverständnis einzugehen: Die weitverbreitete Vorstellung, dass Gott verantwortlich sei für die Schattenseiten in unserem Leben. Meine Antwort lautete: «Jetzt erst recht glaube ich an Gott! Hat Gott mich geschlagen? Hat er ein Gen meines Sohnes beschädigt, meine Ehe kaputt gemacht, mir die Neuorientierung vermasselt? Genau in diesen Notsituationen, den Tohuwabohus meines Daseins, bedeutete mir die göttliche Begleitung besonders viel. Gott war meine Frühlingshoffnung in den wiederkehrenden, unendlich harten Winterstürmen. Erklären kann ich das nicht. Dieses Geheimnis kann ich nur versuchen zu beschreiben.» Tief in meinem Inneren sind zwei Überzeugungen verankert. Erstens: Gott hat mir nie – weder persönlich noch in der Bibel – ein schmerzfreies Leben versprochen. Auch dann nicht, wenn ich an ihn glaube. Das heisst nicht, dass er gleichgültig wäre. Zweitens: Versprochen hat er mir und Millionen von Menschen durch die Jahrtausende nur: «Wo du hingehst, da will ich mit dir sein.» Kein Mist, kein Scheitern bringt Gott davon ab, zu uns zu stehen. Das unbeschreibliche göttliche DU ist da. Einer der Schriftsteller der Bibel sagt es so: «Gott nahe zu sein ist mein Glück.» Auch im Unglück.

Zum Autor:

Georges Morand ist Coach, Erwachsenenbildner und Theologe.

Dies ist ein Auszug aus dem Buch «Mach Dünger aus deinem Mist». Das Buch kann über über www.morandcoaching.ch oder über den Buchhandel bestellt werden.

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Datum: 02.03.2017
Autor: Georges Morand
Quelle: Mach Dünger aus deinem Mist, Bearbeitung Livenet

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