Zum Jahreswechsel

Das wahre Ich finden

In der Livenet-Serie blicken Christen mit Verantwortung zurück – und über die Schwelle ins neue Jahr. Pfr. Thomas Beerle hat frischen Wind in die St. Galler Kirche gebracht. Er wurde 2011 durchgeschüttelt.
«Wie viel Wert beziehen wir aus unserer Leistung?» Thomas Beerle.

«Definiere dich ganz radikal als einen Menschen, der von Gott geliebt ist. Das ist das wahre Ich.»
(Brennan Manning, «Kind in seinen Armen»)


Mitte 2011 wurde überraschend mein verheissungsvolles Projekt gekippt. Damit war eine 50 Prozent-Stelle und immerhin meine wirtschaftliche Lebensbasis dahin. Ich hatte zwei Monate Zeit, um einen neuen Teilzeit-Broterwerb zu suchen. Für einen kurzen Moment packten mich Existenzfragen – ich habe immerhin eine vierköpfige Familie zu ernähren.

Stresstest für den Glauben

Für längere Zeit beschäftigten mich Fragen nach meiner Identität. Wer bin ich, woher beziehe ich meinen Wert? Wovon lebe ich wirklich? Ich weiss natürlich, dass Jesus mir meinen Wert gibt, dass ich nichts leisten muss, um von ihm angenommen zu werden. Ich glaube zutiefst, dass ich ein Königskind bin, ein Sohn Gottes.

Es macht wahrscheinlich Sinn, dass das, was man glaubt, ab und zu einem Stresstest unterzogen wird, wie das Finanzinstitute weltweit derzeit über sich ergehen lassen müssen. Mit 48 wieder die gleichen Fragen (über die man schon dutzende Male gepredigt hat) bewegen wie mit 18 - und merken, dass sie von ihrer Aktualität nichts eingebüsst haben.

Identität durch Leistung?

Die Frage nach der Identität ist letztlich eine Grundfrage für Menschen jeden Alters, die immer wieder eine Stufe weiter nach innen geht wie die Schichten einer Zwiebel... Es ist gut, wenn auch ernüchternd zu merken, dass man nach Jahren der Jesusnachfolge immer noch ziemlich viel Wert aus seiner Leistung und seinem Erfolg bezieht.

In meinem beruflichen Umfeld begegnete ich 2011 landauf landab leitenden Personen an persönlichen Grenzen. Es waren oft Menschen, die gerne investiert haben ins Reich Gottes. Wie viele der Projekte, die an den Rand der Erschöpfung führten, waren wohl mit-gesponsert von der Sehnsucht nach Wert? Wie oft hat eine falsche Identität, wo jemand seinen persönlichen Wert aus dem Erfolg bezog, Menschen in der Gemeinde geblendet und angetrieben?

Der Lehrer der Lebenskunst

In einer Gesellschaft, die Menschen am Auftritt und am Erfolg misst, bleibt es eine Kunst, das wahre Ich zu leben. Gott unterrichtet in dieser Kunst. Zum Kursbeginn schenkt er Gnade. Nicht selten ist es Gnade in Form einer unerwarteten, vielleicht auch unerwünschten Wende der Dinge. In Lektion zwei geht es dann um die Frage: Wo und wie finden wir das wahre Ich? Die Antwort: in der Liebe Gottes. Diese Liebe muss mich neu berühren und in meinem Innern brennen. Diese Liebe entspannt und bringt Freude. Wo diese Liebe fliesst, beginnen Menschen zu leben und Leben zu verbreiten.

Zeit mit Gott gestalten

Diese Antwort ist schneller geschrieben als umgesetzt, besonders wenn noch Druck und Enttäuschung auf der Seele lasten. Die Hausaufgaben für Lektion zwei heissen: Aufräumen und vergeben, die Prioritätenliste neu ordnen – und dann die Nr. 1 auf der Prioritätenliste, die Zeit mit und vor Gott (neu) gestalten. In einer Retraite sind mir kürzlich zwei Dinge dazu wichtig geworden:

  1. Es ist gut, immer wieder einfach vor Gott zu sein. Zweckfrei, um der Beziehung zu Gott selbst willen. Vielleicht begleitet mich dabei ein einziges Bibelwort, das ich innerlich betrachte (z.B. «Seht welche Liebe uns der Vater gezeigt hat», 1. Johannes 3,1) oder eine gute CD mit Anbetungsmusik.

  2. Gott hat mir Fantasie und Vorstellungskraft gegeben, damit ich sie in die Beziehung zu ihm einbeziehe. Wenn Jesus bei mir ist (alle Tage bis zum Ende der Welt!), warum mir nicht vorstellen, dass Jesus auf dem Stuhl vis-à-vis sitzt oder mir seine Hand aufs Herz legt und mir seinen Frieden zuspricht («Meinen Frieden gebe ich euch»)? Ich habe erlebt, wie sich mein Initialbild plötzlich entwickelt und der Heilige Geist mich in ein Geschehen hineinnimmt, das mein Herz erreicht, mich emotional bewegt.

Das wünsche ich mir für mich und für die christliche Szene Schweiz im 2012: dass uns die Liebe Gottes neu bewegt. Dass sichtbar wird, dass das, was wir in unseren Aufgaben und Projekten bewegen, aus dieser Liebe fliesst. Das heisst: Wir fassen täglich den Entschluss, uns ganz radikal als Menschen, die von Gott geliebt sind, zu definieren.

Zum Autor:
Pfr. Thomas Beerle arbeitet gegenwärtig in einem Teilpensum als Pfarrvertreter in Sennwald SG.Er ist Sektionsbeauftragter der SEA. Bis Juli 2011 war er Projektleiter «Frischer Wind»

Datum: 31.12.2011
Autor: Pfr. Thomas Beerle
Quelle: Livenet

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