Am Ende der Christenheit?

Eigentlich spürt es jeder, aber kaum jemand wagt es klar auszudrücken. Der englische Autor, Lehrer und Gemeindegründer Stuart Murray macht es in seinem Buch "Post Christendom" (Nach der Christenheit) in aller Deutlichkeit klar: die Zeit der Christenheit in Westeuropa ist vorbei.
Ende der Christenheit
Kaiser Konstantin (Kopf der Kolossalstatue aus der Maxentius- Basilika in Rom)
Christentum Stuart Murray

Man muss sich sofort beeilen zu sagen: nicht die Zeit des Christentums als Weltreligion, auch nicht der Gemeinde oder der missionarischen Chancen geht zu Ende (ganz im Gegenteil). Es geht beim "Ende der Christenheit" um die gut 1700jährige Epoche der offiziellen christlichen Kirche als kulturprägender Kraft in den meisten Ländern Westeuropas. Es geht um die konstantinische Verbindung von Kirche, Staat und Gesellschaft und um den privilegierten Status, den das Christentum in unseren Ländern innehatte.

Diese Erkenntnis ist bei Missiologen nicht neu – aber wie immer, braucht es länger, bis sie als allgemeine Überzeugung zur Basis durchdringt. Und hier sind die Reaktionen durchaus unterschiedlich. Gerade in der Schweiz träumen viele davon, die christliche Dominanz, symbolisiert im "Schweizerkreuz" wiederherzustellen. Der Abschied tut weh, sehr weh, vor allem, wenn man Evangelium und nationale Identität eng verknüpft.

Kulturelle Turbulenzen

Stuart Murray schreibt als Engländer und als Baptist. Er beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie sich die Kirche – einschliesslich der Freikirchen, die auch ein Produkt des "Christentums" sind – in einer Kultur verhalten soll, die sie nicht länger "besitzt". Wir stecken ja mitten in den kulturellen Turbulenzen und der langen Übergangsphase, die das Ende der langen Aera des Christentums mit sich bringt.

In einem historischen Rückblick rollt der Autor im ersten Teil die Geschichte der Christenheit auf. Die Kirche umfasste zur Zeit Konstantins ja immerhin 10 Prozent der Bevölkerung und war über 250 Jahre lang mit einer Rate von über 40 Prozent pro Jahrzehnt gewachsen. Nun wurde sie mit dem Edikt von Nicäa 325 quasi über Nacht zur Staatsreligion, wozu Augustin 100 Jahre später – unter starker Benutzung des Alten Testaments – die theologische Begründung nachschob. 529 machte Justinian die Bekehrung zur Pflicht, ausgenommen für Juden, und schrieb vor, dass alle Neugeborenen getauft werden müssen.

Standart-Religion Christentum

Das Christentum wurde zur Standard-Religion und lieferte den Rahmen für das mittelalterliche Europa. Im 14 Jahrhundert war Europa ein "christlicher" Kontinent mit gemeinsamem Glauben, gemeinsamem Zugehörigkeitsbewusstsein zur Kirche und gemeinsamen Normen des Verhaltens. Jesus wurde marginalisiert; an die Stelle der Mission trat die Erhaltung. Natürlich gab es immer Strömungen neben den grossen Kirchen, die versuchten, die Qualität des ursprünglichen Glaubens wiederherzustellen, etwa die Lollarden und Waldenser des 15. Jahrhunderts, deren Programm im übrigen erstaunlich dem der heutigen Basis- und Hausgemeinde-Bewegungen gleicht. Aber sie blieben Randerscheinungen und wurden in der Regel massiv bekämpft.

Christenheit zerbrach in mehrere Blöcke

Mit der Reformation zerbrach der grosse Block in mehrere "Christenheiten". Die Reformatoren veränderten einige Aspekte des Glaubens und der Ethik, die Grundstruktur des Christenheits-Systems – Zwangskirche, Kindertaufe, Hierarchie, Priester-Laien-Dualismus usw. - wurde nicht hinterfragt. Auch gründeten die Reformatoren kaum neue Gemeinden, sondern "reformierten" die alten katholischen Strukturen (was generell zu weniger radikalen Veränderungen führt als die Gründung neuer Gemeinden)

In den kommenden Jahrhunderten blieben die Strukturen, jedoch wurden die Inhalte durch Aufklärung und Säkularisierung zunehmend verdünnt; heute zeigt sich, dass die immer brüchiger werdenden Strukturen diese innere Entleerung nicht mehr kompensieren können. Die konstantinische Struktur ist am Ende.

Reaktionen

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, auf diese seismische Verschiebung zu reagieren.

  • Leugnen
    Viele Christen leugnen das Ende der christlichen Kultur; sie sehen es nur als ein vorübergehendes Phänomen und meinen, eines Tages die christliche Gesellschaft wiederherstellen zu können. Gemeinden und Konferenzen laufen, als sei alles beim alten; viele Mitarbeiter arbeiten härter, aber mit weniger Ergebnissen.

  • Verteidigen
    wer das Ende des Christentums feststellt, wird beschuldigt, mit der Säkularisation gemeinsame Sache zu machen und das christliche Erbe zu verraten. Richtigerweise wird bemerkt, dass die Lossage vom Christentum negative Folgen für die europäische Gesellschaft hat.

  • Verdrängen
    Andereverdrängen die Zeit des Christentums und versuchen, die Urchristenheit wiederherzustellen (restaurationists) Dabei übersehen sie, dass wir alle Produkte der Geschichte sind – und dass wir uns nicht von den Familienmitgliedern lossagen können, die uns nicht gefallen. Die ganze Geschichte ist unser Erbe, ob es uns gefällt oder nicht.

  • Dämonisieren
    Besonders die dunklen Seiten des Christentums – Kreuzzüge, Inquisition, Unterdrückung und vieles mehr – können dazu verleiten, die ganze Geschichte "dem Teufel zuzuschreiben". Aber die Christenheit hat auch grossartige Beispiele von Kreativität, Schönheit, Mitleiden und intellektuellem und geistlichem Leben hervorgebracht, so dass eine differenziertere Betrachtung nötig ist.

  • Lossagen
    Dies scheint die angebrachteste Haltung zu sein. Sie darf – und muss – mit Trauer verbunden sein, verlangt Busse und Demut. Dann müssen wir uns sorgfältig lösen aus der Umklammerung der Christentums-Strukturen und –paradigmen. Murray warnt vor zu schnellen neuen grossen Entwürfen – zu tief sitzen Denkvoraussetzungen des Christentums in unseren Hirnen und Herzen. "Aktion ist nötig an vielen Orten – in denominationellen Zentralen, Lehrinstituten, Ortsgemeinden, Verlagen, Hausgruppen und Unterhaltungen.

Veränderung und Neuansätze

Der Autor bleibt nicht bei oberflächlichen Empfehlungen stehen, sondern geht in die Tiefe. Es wird deutlich, wie viel von unserer Lehre, Mission und Gemeindepraxis aus einer Haltung kommt, die "christlich sein" als das Normale ansieht. Einige willkürlich herausgegriffene Bereiche, die angesprochen werden:

  • Könnte die Art, wie in der Christenheit missioniert worden ist, die heutige tiefsitzende Aversion gegen falsches "Evangelisieren" hervorgerufen haben? Dann müssen wir auf ganz andere – demütige, ehrliche und tastende Art – von unserem Glauben zu reden lernen.

  • Wie viele evangelistische Strategien bauen auf einem - unbewusst auferlegten – Schuldgefühl, dass man nicht "zur Kirche geht"? Nach-Christenheits-Evangelisation muss überhaupt vom "Menschen in die Gemeinde einladen" gelöst werden

  • Mit aller Leidenschaft müssen neue Arten von Kirchen und Gemeinden entwickelt werden, ohne in eine "Gemeinditis" zu verfallen. Dabei geht es nicht nur um neue Formen, die zu neu-alter Gesetzlichkeit werden können. "Gemeinden des Friedens zu werden, Lerngemeinschaften aufzubauen, gegenseitige Verantwortlichkeit und radikale Gastfreundschaft einzuüben ist eine anspruchsvollere Aufgabe als sich in Kneipen zu treffen, Labyrinthe zu bauen oder powerpoint und Flash zu beherrschen" schreibt Murray.

  • Der Mythos muss entlarvt werden, als wenn die "Geistlichen" die geistliche Front-Linie bilden und die "Laien" sie unterstützen müssten. Das Gegenteil ist wahr. Das Wort "Laien" ist überhaupt eins der übelsten Erbstücke der Christenheit und muss gründlich ausgerottet werden.

  • Die Taufe eines Gläubigen ist eine Ordination. Alle Mitglieder sollen gesegnet und ausgesandt werden zu ihrem Dienst in neuen Jobs, in Elternschaft, Pensionsalter oder andere Berufungen. Gemeinden müssen lernen, die Anforderungen des Berufslebens ihrer Mitglieder als anspruchsvollen Dienst zu schätzen und zu unterstützen.

  • Der Primat der (im Durchschnitt höchst mittelmässigen) Monolog-Predigten als Standard-Kommunikationsmittel der Christenheit muss gebrochen werden. Viele verlassen die Kirchen, weil sie nicht mehr mit dem Löffel gefüttert und patronisiert werden wollen. Es gibt unzählige Alternativen und Ergänzungen zu diesem Stilmittel, die aktiv in Gemeinden erprobt und eingeübt werden müssen. Was in der Christenheit nicht erwünscht war, ist jetzt ausdrücklich nötig: gemeinsames, andauerndes und interaktives Lernen. Das Wort "Liturgie" bedeutet eigentlich "die Arbeit der Leute", und der "Sermon" ist im Lateinischen eigentlich eine Unterhaltung.

  • Der Zehnte als – dem AT entlehntes – Christentums-Mittel muss radikalisiert werden. Gemeinden müssen über das "Geben" hinauswachsen und wieder unter den Armen und Machtlosen gepflanzt werden.

Das Schöne ist: die Kirche nach der Christenheit hat Quellen und Ressourcen, aus denen sie schöpfen kann. Vieles wird ehrlicher und echter werden. Der Umzug von der Mitte der Gesellschaft an die Ränder, von privilegierter Religion zu einer Stimme unter vielen und von aufgezwungenem Glauben zu radikaler Freiwilligkeit wird dem Christentum gut tun.

Murray: "es ist, als wenn wir gedrängt würden, die scheinbare Sicherheit eines immer noch eindrücklichen, aber angeschlagenen Ozeanriesen zu verlassen und uns einem kleinen Rettungsboot anzuvertrauen, das in der Dunkelheit auf den Wellen hin und her tanzt. Aus der "Christenheit" auszusteigen verlangt Mut, und einige mögen lieber die Stühle auf Deck noch einmal umstellen, aber die Hoffung der Zukunft liegt in der Verletzlichkeit des Rettungsbootes, wo es uns auch hintragen mag"

Post Christendom von Stuart Murray
Herausgegeben im Jahre 2004
http://www.postchristendom.com


Datum: 10.03.2007
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Focusuisse

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