Durch Liebe motiviert

Wenn Gott uns vorauswächst

Kann Gott wachsen – und was hat das mit dem persönlichen Wachstum des Christen zu tun? Andreas Loos, Dozent im Theologischen Seminar St. Chrischona, hat sich dazu Gedanken gemacht.  
Wachstum

Es ist mir viele Jahre nie aufgefallen, wie «ungöttlich» der Gott der Bibel die Welt geschaffen hat. Von einem allwissenden und allmächtigen Gott sollte man doch erwarten, dass er die Schöpfung mit einem Fingerschnipp fix und fertig hinstellt – ausgereift, vollendet, perfekt. Das wäre göttlich!

Stattdessen lese ich in den Schöpfungsberichten der Bibel (1. Mose 1–2): Gott nimmt sich Zeit, Gott erschafft die Zeit und Gott schenkt seinen Geschöpfen Zeit. Die Erde ist am ersten Tag noch nicht das, was sie am siebten Tag sein soll. Und auch nach sieben Tagen ist die Schöpfung wohl sehr gut, aber noch nicht vollendet. Der Mensch soll jetzt zu einem Hirten und Gärtner werden, mit ihm soll der Garten wachsen, ja, die ganze Erde soll in einen Garten Gottes verwandelt werden. Gott lässt sich ein auf das Abenteuer des Wachsens! Denn er will das Ziel, die Vollendung seines Sieben-Tage-Werkes nur mit seinen Geschöpfen erreichen. Deshalb beteiligt er sie auch am Wachstum seines «Projekts Schöpfung» (siehe etwa 1. Mose 1,24 und 2,7). Das muss Liebe sein, die sich so auf die geliebten Kreaturen einlässt!

Der Gott, der wachsen kann – aus Liebe zu uns

Der Schöpfer lässt sich auf das Wachstum ein – das finde ich erstaunlich. Aber dass Gott wächst? Was ich damit nicht meine, ist: Gott war mal weniger Gott, jetzt ist er richtig Gott geworden. Nein, Gott ist ewig vollkommen. Was ich aber meine: Aus Liebe zu uns lässt Gott sich so sehr auf das Abenteuer des Wachsens ein, dass er einer von uns wird und unser Wachsen auf sich nimmt. Warum? Weil wir Menschen uns auf Mächte eingelassen haben, mit denen es nur noch tödliches Wachstum gibt. Für mich ist der wachsende Sohn Gottes eine der aufregendsten Geschichten des Neuen Testaments. Lebendiges Wachstum geschieht, wenn wir ihm hinterher wachsen.

Wachstumsknoten im Leben des Sohnes Gottes

Für all die Stellen, in denen das Neue Testament so «ungöttlich» über Gottes Sohn spricht, hatte ich lange folgende Lösung: Dort ist die Rede vom Menschsein Jesus, aber nicht von seinem Gottsein. Als Mensch wird er geboren, wächst, lernt, wird versucht, weint, schreit, leidet und stirbt. Aber das sieht nur so aus. Was sein Leben letztlich ausmacht, ist so eine Art göttliches Betriebssystem, ein Programm. Darin ist festgelegt, was Jesus eigentlich fühlt, denkt, will und tut, um uns Menschen todsicher zu erlösen. Aber so ist es nicht.

Die Heilige Schrift erzählt es anders: Leben und Werk des Sohnes Gottes sind gekennzeichnet von echten, dramatischen Wachstums- und Reifeprozessen. Ich nenne die drei wichtigsten Knotenpunkte:

Die Taufe (Matthäus-Evangelium, Kapitel 3, Verse 13–17):

Bis zur Taufe war es nicht Teil seiner Gottessohnschaft, messianisch zu reden und zu handeln. Aber jetzt wird Jesus genau dafür mit dem Heiligen Geist ausgerüstet und gesalbt. Das Neue Testament gibt kaum Informationen über den ersten Abschnitt in Jesu Leben. Nichts Messianisches, keine Zeichen und Wunder in den ersten knapp dreissig Lebensjahren. Im Gegenteil, auch vom Zwölfjährigen, der etwas ahnt von seinem Vater im Himmel, heisst es: «Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und ordnete sich ihnen unter. Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen» (Lukas 2,51f.; vgl. auch 2,40). Da ist etwas gewachsen, still und geborgen. Und nun ist der Sohn Gottes bereit, der Christus Gottes zu sein.

Das Bekenntnis des Petrus und die Verklärung (Matthäus 16,13–17,13):

In einer Zeit des Betens und Fragens klären sich Identität und Berufung Jesu neu. Er bestätigt das Bekenntnis des Petrus: «Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.» Jesus wird bewusst: Wenn sich diese Wahrheit nun öffentlich Bahn bricht, dann warten auf mich Leiden und Sterben. Bisher gehörten diese beiden Aspekte nicht in sein messianisches Selbstverständnis. Aber hier identifiziert sich Jesus mit dem leidenden und sterbenden Knecht Gottes (Die Bibel, Buch Jesaja, Kapitel 53). Das ist eine Umwälzung der gesamten jüdischen Messiaserwartung. Ab dem Zeitpunkt verkündet Jesus auch sein Leiden und Sterben, und alle Hörer schütteln bis zum Schluss den Kopf. Wie kann ein Leidender und Sterbender der Christus sein? Für diesen unverständlichen und schweren Weg ans Kreuz stärkt ihn sein himmlischer Vater in der Verklärung.

Der Kampf im Garten Gethsemane (Markus 14,32–42):

Wie abgrundtief schrecklich ist das! Zum ersten Mal will der Sohn nicht alleine sein mit dem Vater. Daher nimmt er drei seiner Jünger mit ins Gebet. Denn er weiss, dass er den Vater gegen sich hat. Ihm schaudert vor dem Kelch des Zornes Gottes, vor der Hölle, er will das alles nicht. Aber hier – in einem Garten jenseits von Eden – wächst der Wille Christi, für die Menschen zu sterben, zu seiner letzten Reife. Hier macht der Sohn Gottes jene leidvolle Lernerfahrung, von der ich bis heute lebe. «Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden» (Hebräer 5,7-9). Der Gehorsam Christi ist ein gewachsener und erlernter Gehorsam. Sogar noch unter dem Leidensdruck der Sünde und des Todes bleibt der Sohn in Liebe beim Vater. Gelernter Gehorsam kann erlösen, vorprogrammierter Gehorsam nicht.

Gott nach-wachsen

Ob es das persönliche Wachstum ist oder das der Kirche, wachsen heisst auch, Gott hinterher zu wachsen. Ein paar Anstösse zu einem christusgemässen Wachstum:

  • Wachsen ist entlastend, weil ich jetzt noch nicht das sein und tun muss, was ich einmal sein und tun werde. Wachsen gibt mir Zeit. Ich darf geduldig und barmherzig mit mir, den anderen und meiner Kirche umgehen.
  • Wachstum geschieht massvoll. Was wächst, überfordert mich nicht, sondern hält Mass mit dem Rest meines Lebens. Ich brauche daher auch keine Angst vor Wachstum zu haben. Und nervige Wachstumsvergleiche nehme ich locker.
  • Wer sein Wachstum ständig beobachtet und laut demonstriert, könnte gefährdet sein. Was wächst, macht meistens keinen Lärm. Ungewachsener Erfolg mag spektakulär, aber nicht nachhaltig sein.
  • Wachsen heisst: Ich muss nicht so bleiben, wie ich bin – und die Kirche auch nicht. Gottes Verheissungen sind grösser als meine gegenwärtige Lage. Wohin will ich wachsen?
  • Personen wachsen nicht automatisch, Personengruppen auch nicht. Wenn Gott heilvoll herrscht und sein Reich baut, dann nimmt mich das in Anspruch, dann bin ich gefragt, ob ich will. Zu wachsen heisst dann vielleicht auch, sich einzuschränken und zu verzichten.
  • Wachsen meint nicht die ständige Steigerung von Qualität und Quantität. Im Gegenteil, rückblickend zeigt sich oft, wie mich gerade die Knicke und das Scheitern vorwärts gebracht haben. Wer wachsen will, soll wagen und experimentieren. Scheitern ist hier erlaubt. Und manchmal darf etwas Gewachsenes sogar sterben, damit Neues wachsen kann.

Dr. Andreas Loos ist Dozent für systematische Theologie am Theologischen Seminar St. Chrischona. Er ist verheiratet mit Simone, sie haben drei Kinder.

Datum: 28.06.2012
Autor: Andreas Loos
Quelle: Chrischona Panorama

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service