«Evangelikale, tut Busse!»
«Das evangelikale Zeugnis ist beschädigt. Wir brauchen Busse und Erneuerung.» Unter diesem Titel veröffentlichte Walter Kim im US-Magazin «Christianity Today» einen Aufruf an die Mitglieder der «National Association of Evangelicals». Dieser evangelikalen Dachorganisation gehören in den USA immerhin 45'000 Kirchen und Gemeinden aus 40 verschiedenen Denominationen an. Kim stellt fest: «Polarisierung ist wie ein starker Magnet in unserem gesamten ideologischen Spektrum. Sie zieht uns auseinander und verklumpt uns zu Gruppen. […] Bemühungen, auf andere zuzugehen, müssen dieser Anziehungskraft entgegenwirken.»
Ein Ruf zu staatsbürgerlicher Verantwortung
Wie viele andere Christen auch realisiert Kim, dass sich die Gesellschaft vermehrt in gleichgesinnte Gruppen (Livenet berichtete) einteilt. Um dem entgegenzuwirken, hat die evangelikale Bewegung eine Erklärung abgegeben, die ihre Wurzeln nicht verleugnet, aber Christinnen und Christen neu ihre Verantwortung zeigt. Am Anfang steht das Bekenntnis der eigenen Schuld – gerade schwachen oder andersdenkenden Menschen gegenüber.
«Die Erklärung konzentriert sich auf acht Hauptthemen mit moralischer Tragweite, die in biblischen Überzeugungen wurzeln: Schutz der Religionsfreiheit, Wahren der Heiligkeit des Lebens, Stärken von Familien, Engagement für Gerechtigkeit für die Armen und Schwachen, Einhalten der Menschenrechte, Abwehr von Rassismus, Eindämmen von Gewalt und Fürsorge für Gottes Schöpfung.»
Ungewohnt selbstkritische Töne
Viele der angesprochenen Punkte gehören für evangelikale Christen zu den sogenannten «nicht heilsentscheidenden Tatsachen», was in der Vergangenheit oft dazu führte, dass sie als nicht so wichtig abgetan wurden. Kim betrachtet sie dagegen als «Werte des Königreichs» Gottes. Ihr Einhalten mache Christen sichtbar wie das sprichwörtliche «Licht auf dem Berg» (Matthäus, Kapitel 5, Verse 14–16).
Auf dieser Basis ist sicher ein gesellschaftlicher Dialog auch mit Andersdenkenden möglich. Allerdings schwingt bei Kims Statement nicht nur die Sehnsucht nach Erneuerung mit, sondern auch die nach alter Grösse. So unterstreicht er bereits im Untertitel seines Artikels, dass er Christen dazu aufruft, «ihren moralischen Führungsanspruch zu bekräftigen». So bleibt neben vielen guten Gedanken auch der Nachgeschmack: Ist es ein echter Ruf zur Umkehr oder vielmehr Schadensbegrenzung nach wiederholten Entgleisungen evangelikaler Leitgestalten wie Jerry Falwell (Livenet berichtete)?
Evangelikale differenziert betrachten
Evangelikale in den USA und im deutschsprachigen Europa unterscheiden sich deutlich voneinander. Ja, sogar die hiesigen Evangelikalen sind keine homogene Gruppe. Das wird bei machem vergeblich versuchten Schulterschluss genauso deutlich wie beim Angriff auf scheinbar ewig-gestrige Strukturen. Höchste Zeit, dass Evangelikale differenziert wahrgenommen werden – und dass sie sich selbst differenziert wahrnehmen.
Doch reicht dazu ein Statement mit der Einladung, es zu unterschreiben? Auch wenn Willfried Gasser von der Schweizerischen und Ekkehart Vetter von der Deutschen Evangelischen Allianz dazu aufrufen würden, würde das wahrscheinlich kein Umdenken einleiten. Dabei gibt es längst konstruktive Anregungen zum Weiterdenken. Eines ist zum Beispiel der aktuelle Podcast des Theologen Jens Stangenberg aus Bremen. «Intelligent glauben» und «Die gute Botschaft von Jesus und die Gestalt von Kirche neu durchdenken» stellt er seiner Website voran. Und im zehnteiligen Podcast «Bibelfundamentalismus. Ein berechtigtes Anliegen und warum er dennoch daneben liegt…» geht er anhand aktueller Geschehnisse in seiner Nachbarschaft auf die besondere Beziehung mancher Evangelikaler zur Bibel ein. Er tut das persönlich, sachlich, fundiert und gleichzeitig herausfordernd. Man muss nicht seiner Meinung sein, aber Stangenbergs Ausführungen helfen dabei, den eigenen Glauben neu zu definieren – jenseits von buzzwords und Klischees.
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Datum: 15.10.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Christianity Today