Kaum eine Persönlichkeit geniesst im Westen soviel Ansehen und Respekt wie der Dalai Lama. Kirchen- und Münstertüren stehen ihm offen, Auszeichnungen von Theologischen Fakultäten sind ihm gewiß, und für einen Lokalpolitiker gibt es keine werbewirksamere Aufnahme als ein Abbildung zusammen mit "Seiner Heiligkeit, dem XIV. Dalai Lama". Viel mag an seiner persönlichen Ausstrahlung hängen: der allzeit lächelnde Wanderprediger. Sehr vieles rührt aber auch von dem Tibet-Bild her, das uns präsentiert wird: Tibet-Gesellschaften, -Vereinigungen, -Stiftungen und -Vereine sowie entsprechende Filme tragen seit Jahren und Jahrzehnten dazu bei, dass uns dieser ferne Landstrich in den schönsten Farben erscheint; je ferner, desto schöner? Der nächste publikumsträchtige Auftritt dieses Oberhauptes des tibetischen Buddhismus ist für den 11.-23. Oktober 2002 im österreichischen Graz vorgesehen. 12-15'000 Besucher wollen sich dann von ihm ins Kalachakra-Ritual einweihen lassen. Der Fremdenverkehr rechnet mit über 100'000 Übernachtungen. 6000 Gäste hätten bereits fest gebucht, erfährt man auf der Homepage der Veranstalter. Den Sinn dahinter umschreibt die Landeshauptmännin der Steiermark, Frau Waltraud Klasnic, nicht unbescheiden mit den Worten: "Das Bundesland Steiermark wird sein Möglichstes tun, um zu einem dauerhaften und stabilen Weltfrieden beizutragen." Denn "diese Zeremonie", so erklärt der Dalai Lama persönlich, "funktioniert ausgezeichnet beim Auslöschen von negativen Energien wie z.B. Kriegen". An ihrer Stelle würden "positive Energien ausgelöst, positiv für den inneren Frieden und positiv für die Heranbildung einer religiösen und sozialen Vision für die Welt, die auf Toleranz, Verständigung, Gemeinschaft und Gespräch gründet." - Wer wollte hier dagegen sein? Der jüdische Kulturkritiker Eugen Rosenstock-Huessy sagte einmal von einem Kontrahenten, er könne "nicht widerlegt werden, weil er die Bedürfnisse seiner Zeit vertritt". Wahrscheinlich steht es um den Dalai Lama ähnlich. Wenn wir uns aber als Glieder einer aufklärerischen Tradition sehen, dann dürfen unsere Bedürfnisse nicht allein massgebend sein für unsere Wahrnehmung. Gestehen wir es uns also zu, auch andere Stimmen an unser Ohr zu lassen. Eine besonders kräftige ist die des Münchner Psychologen Colin Goldner. Nach seinen Studien war das Tibet vor 1950, vor dem Einmarsch der Chinesen unter Mao tse-Tung, alles andere als ein Paradies des Friedens und Eintracht. Kleine Jungen wie Mädchen wurden aufs Übelste von den Priestern, einem "religiös verkleisterten Ausbeuterregime", missbraucht. Oberschenkelknochen umgebrachter Mädchen dienten als kunstvoll verzierte Ritualhörner, und reich geschmückte zeremonielle Schalen entpuppen sich bei näherem Hinsehen als umgearbeitete Menschenschädel. Der hochgelobten Gelehrsamkeit der Mönche standen 98 Prozent an unterdrückten Analphabeten gegenüber und den verklärten Meditationsräumen jene "erbärmlichen Dreckslöcher, in denen die grosse Masse der Tibeter und Tibeterinnen bis weit ins 20. Jahrhundert dahinvegetierte" ( www.ballhausplatz.at ). Wer beginnt, sich dem Tibet-Enthusiasmus kritisch zu nähern, wird weitere Schattenseiten zur Kenntnis nehmen müssen. Eine davon ist die freundschaftliche Nähe gerade des Dalai Lama zu den Theosophen. Im Jahr 1993 hat er immerhin die Neuauflage der Werke von Helena Blavatsky mit einem äussert wohlwollenden Vorwort versehen: "Ebenso freue ich mich über diese jetzt erscheinende deutsche Ausgabe der 'Stimme der Stille' (...) Ich begrüsse das Erscheinen dieser Ausgabe sehr", heisst es dort. Frau Blavatsky ist eine Grossmutter der heutigen Esoterik und Mitbegründerin des neuzeitlichen Okkultismus. Sowohl die Anthroposophie als auch die Mystik der Nationalsozialisten, vor allem der Thule-Orden, erhielten von ihr die wesentlichsten Impulse und berufen sich auf sie. A propos Nationalsozialismus: Es dürfte den Allerwenigsten bekannt sein, dass der Dalai Lama überaus herzliche Beziehungen zu früheren Nazis unterhielt, dass sich heutige Neonazis auch auf seine Form des Buddhismus berufen und - was wohl am schwersten wiegt - er sich von diesen Banden bislang in keiner Weise kritisch distanziert hat. Man könnte das alles ja immer noch als "feindliche Vereinnahmung" und "Missbrauch" des tibetanischen Buddhismus relativieren. Nur sollte man dieses Relativieren doch zuallererst von "Seiner Heiligkeit" selber erwarten dürfen. Sie ist bislang ausgeblieben. Befremdlich genug, dass Heinrich Himmler, der zweite Mann nach Hitler, im Jahre 1938/39 eine ausgedehnte Tibet-Reise finanzierte, die "SS-Expedition Schäfer", um Spuren des reinen Ariertums zu verfolgen. Der letzte Überlebende dieser Reise, der erst kürzlich verstorbene Dr. Bruno Beger, ein Rassehygieniker erster Güte, hatte den Dalai Lama noch mindestens fünfmal (1983, 1984, 1985, 1986, 1994) persönlich aufgesucht und über die freundschaftliche Art dieser Begegnungen berichtet. - Auch das Vereinnahmungen, für die der Dalai Lama nicht verantwortlich zu machen ist? Vielleicht sogar aktive Friedensarbeit, indem er sich gerade mit solchen Leuten trifft? Aber warum grenzt er sich nicht von anderen Interpretationen ab? Es gäbe als Anlass genug für eine kritische Diskussion über unser westliches Tibet-Bild. Aber diese Diskussion findet nicht statt. Goldner und andere Kritiker werden nicht nur gemieden, sondern belästigt und bedroht. Die Paketsendungen reichen von halbverwesten Hühnern über Fäkalien bis zu fingierten Briefbomben. In Vorträgen und Rezensionen werden sie zwar erwähnt, aber oft auf primitivstem Niveau; so offenbar auch im Juli 2000 bei einer Gastvorlesung einer ansonsten unbekannten Referentin an der Universität Zürich ( www.trimondi.de/deba13.html ). Auch die Friedfertigkeit von Buddhisten scheint ihre Grenzen zu kennen. In einer Besprechung zu dem Buch des Ehepaares Trimondi alias Hermann und Marianna Röttgen, Der Schatten des Dalai Lama, das viele solcher Hintergründe aufzeigt, schreibt der Zürcher Religionswissenschaftler Prof. Dr. Georg Schmid: "Wer die Illusion vom durchwegs friedlichen Buddhismus nicht preisgeben kann oder will, kann im Werk des Autorenehepaars nur eine finstere Abrechnung enttäuschter ehemaliger Freunde des tibetischen Buddhismus sehen. Wer keine Illusionen braucht, schätzt das umfangreiche Werk als Beitrag zu einer längst fälligen Korrektur" ( www.relinfo.ch/gelugpa/trimondi.html ). Wissen macht mündig und hilft, spätere und umso härtere Enttäuschungen zu vermeiden. Wer darum auch die religiöse Landschaft mit offenen Sinnen erkunden will, der wird dieses Risiko, Illusionen zu verlieren, gerne auf sich nehmen und vollmundige Friedensversprechungen mit dem gehörigen Abstand betrachten.Im Westen nichts Neues? Von westlichen Sehnsüchten und östlicher Wirklichkeit
Wird Graz zu einem Zentrum des Weltfriedens?
Mädchenknochen als Ritualhörner
Braune Schatten über Tibet
Das kritische Gespräch findet (noch) nicht statt
Datum: 26.05.2002
Quelle: Jesus.ch