"Gott ist nicht erforschbar"

Das Gehirn bietet noch viel Raum zur Forschung

"Gott ist nicht erforschbar", sagt der Berner Hirnforscher und Kinderarzt Norbert Herschkowitz (73). Er erklärt, dass Naturwissenschaft und Religion sich nicht gegenseitig ausschliessen. Der neu aufgekommenen Forschungsdisziplin "Neurotheologie" steht der emeritierte Berner Professor für Pädiatrie kritisch gegenüber. Norbert Herschkowiz wurde 1929 in Basel geboren. Er ist Pädiater (Kindermediziner). Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit gilt der Neurobiologie. Er leitete von 1969 bis 1994 die Abteilung für Entwicklungsstörungen am Kinderspital der Universität Bern. Von 1982 bis 1994 war er Ordinarius für Pädiatrie an der Universität Bern. Seit seiner Emeritierung im Jahr 1994 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Harvard University in den USA.

Georges Scherrer: Ein geflügeltes Wort, das dem Würzburger Pathologen Rudolf Virchow (1821-1902) zugeschrieben wird, lautet: "Ich habe Tausende von Leichen seziert, aber keine Seele darin gefunden." Können sich die naturwissenschaftliche und die theologische Auffassung von Seele vertragen?
Norbert Herschkowitz: Die Frage ist: Wie definieren wir die Seele? Will jemand die Seele biologisch erfassen, dann ist das etwas ganz anderes, als wenn er sie theologisch beschreiben will. Deshalb ist die Aussage von Virchow kein Beweis, dass die Seele nicht existiert. Die Existenz der Seele im theologischen Sinn ist nicht eine Frage, die mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden kann. Sie ist eine Frage des Glaubens. Ich erlaube mir, ein Zitat von Goethe aus seinen "Maximen und Reflexionen" heranzuziehen, um an das Problem heranzugehen: "Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche still zu verehren."

"Für mich ist die Seele die Gesamtheit von Fühlen, Denken, Erleben und Handeln des Menschen." Dieser Satz stammt von Ihnen. Er bringt das Bemühen des Menschen zum Ausdruck, über eine Definition der Seele habhaft zu werden...
Jeder Mensch ist ein einmaliges Wesen. Biologisch gesehen betrachten wir das als Seele, was die Einzigartigkeit jedes Einzelnen ausmacht. Von daher können wir auch von "seelischen Krankheiten" reden.

Was bedeutet dies für Sie als Hirnforscher?
Ich versuche das zu erforschen, was ich nachweisen kann: Wie funktioniert das Denken? Das Fühlen? Das Handeln?

Und sind Sie auf ein Resultat gestossen?
Ich werde mein Leben lang forschen. Nobelpreisträger Gerald Edelmann sagte einmal: "Research is imagination in the search of truth" (Forschung ist Vorstellungskraft auf der Suche nach Wahrheit). Wir werden uns nie anmassen zu sagen, dass wir die Wahrheit gefunden haben. Wir können nur sagen, wir kommen ständig ein paar Schritte weiter.

Die Seele ist gemäss dem Glauben unsterblich. Die Naturwissenschaftler suchen weiter die "fassbare Seele". Sind Theologie und Naturwissenschaft - wie es Virchow veranschaulichte - nach wie vor unvereinbar?
Die Naturwissenschaft kann nicht beweisen, dass die Seele unsterblich ist. Das heisst aber nicht, dass alles, was der Mensch in seinem Leben tut, mit ihm ausstirbt. Unsere Gedanken und Taten leben in anderen Menschen weiter. Theologie und Naturwissenschaft gehören zur menschlichen Suche nach Wahrheit.

Sie haben Kontakte zu Kirchenvertretern. Haben Sie als Wissenschaftler davon profitiert?
Ich habe Kontakte zu Geistlichen, Ordensschwestern und weiteren religiösen Gruppen, und ich habe sehr viel davon profitiert. Wir haben keine Schwierigkeiten, wenn wir miteinander reden. Ich verstehe es, wenn sie sagen: "Jawohl, wir glauben an Gott, wir glauben an die Seele, wir brauchen sie nicht nachzuweisen." Ich habe Achtung und Verständnis dafür, dass man sagen kann: "Es gibt noch etwas Höheres, etwas, das wir nicht verstehen können und was wir 'Gott' nennen." Und meine Gesprächspartner zeigen Verständnis dafür, dass die Naturwissenschaft versucht, die biologische Seite der Seele zu verstehen, und bestrebt ist, menschliches Leid zu reduzieren, indem sie zum Beispiel nach den Ursachen von Schizophrenie oder der Alzheimer-Krankheit forscht.

Aus der Zwiespalt zwischen dem Menschen, der glauben will, und jenem, der forschen und beweisen will, gibt es kein Entrinnen...
Nein. Wir müssen uns gegenseitig achten und zu verstehen suchen. Es gehört zur Weisheit des Menschen, dass er verschiedene Auffassungen akzeptieren und mit ihnen leben kann. Naturwissenschaft und Religion müssen zusammenarbeiten können.

Heute gibt es mit der "Neurotheologie" - deren Vertreter etwa der Radiologe Andrew Newberg und Eleanor Rosch, Professorin an der University of California in Berkley, sind - eine Tendenz, Theologie und Hirnforschung zu vereinbaren. Wie stehen Sie dazu?
Ich finde es schade, wenn jetzt Hirnforscher mit Hilfe der Magnetresonanz Gott nachzuweisen versuchen. Gott braucht keinen wissenschaftlichen Nachweis seiner Existenz - auch nicht mittels Magnetresonanz. An Gott glaubt man. Was die Forschung gezeigt hat ist, dass bei der Meditation gewisse Regionen im Hirn unteraktiviert werden und andere aktiviert. Das geschieht in jedem Traum. Das hat doch nichts mit Gott zu tun!

Soll man alles erforschen?
Mit dem Befehl "Wir verbieten euch" hat die Menschheit ganz schwere Probleme gehabt. Der Mensch hat eben einen Drang, sich selber und seine Umwelt zu verstehen. Die Forschung gehört zur menschlichen Natur, und wir müssen mit dem Paradox leben, dass unser Drang, die Welt besser zu verstehen, uns unerhörte Möglichkeiten gibt, sowohl Gutes wie auch Böses zu tun. Ich glaube, man soll erforschen, was man erforschen kann. Es muss aber ethisch vertretbar sein.

Wo ist die Grenze des ethisch Vertretbaren zu setzen?
Dies muss durch intensive Diskussion, durch Beurteilung aller Fakten, durch das Anhören vieler Meinungen geschehen - und das sind sehr lange Prozesse. Ich will noch etwas hinzufügen: Der Mensch ist zu Grausamkeiten fähig, ohne dass nur die geringste genetische Manipulation stattgefunden hat. Ich denke an die Kriege, auch an die Religionskriege, an die Millionen Menschen, die deswegen gestorben sind oder darunter schwer gelitten haben.

Datum: 20.05.2002
Autor: Georges Scherrer
Quelle: Kipa

Werbung
Livenet Service
Werbung