Evangelisation und Gemeinde für postmoderne Menschen
Die Art, wie Menschen für die Botschaft Gottes offen und für Christus gewonnen werden, ändert sich deutlich. Ich möchte schematisch zwei Arten der Evangelisation gegenüberstellen:
1. "Das ist die Wahrheit"
In der modernen Welt haben Christen es gelernt, auf "moderne" Art und Weise das Evangelium zu kommunizieren. Man beginnt mit der "Botschaft", die klar, rational und verständlich präsentiert wird, bisweilen auch unterstützt durch Zeichen, Wunder, Prophetie usw. Man wird eingeladen, sich für die Botschaft zu entscheiden und Jesus als Retter und Herr anzunehmen. Wenn das geschehen ist, wird man in eine Gemeinde integriert, in der die Bibel gelehrt wird.
Dieser Ansatz findet in der Regel in zwei settings statt: entweder in der öffentlichen Verkündigung oder der persönlichen Evangelisation.
2. Die postmoderne Art der Evangelisation
Die postmoderne Evangelisation beginnt mit "Beziehung". Man sieht Spiritualität im Leben eines Freundes, dem man vertraut. Der Freund lädt mich ein, diese Spiritualität mit ihm zusammen kennenzulernen. Ich lerne, dass Spiritualität – geistliches Leben – eigentlich eine persönliche Beziehung zu einer Person, Jesus, ist. Mein Freund lädt mich ein, diese Spiritualität nicht nur zusammen mit ihm, sondern in einer kleinen Gruppe von Menschen zu suchen, die diese Beziehung zu Jesus leben und vertiefen wollen. In dieser Gruppe lerne ich geistliches Leben in der Form von Liebe, Friede, Freude, Freundlichkeit, Barmherzigkeit usw. kennen. Ich erlebe, wie sie einander lieben und ihren Glauben ganzheitlich ausleben und künstlerisch ausdrücken.
Der Rahmen: die kleine Gruppe
Statt der grossen öffentlichen Veranstaltung findet postmoderne Evangelisation gewöhnlich im Rahmen einer kleinen Gruppe statt, meistens verbunden mit einem Essen. Die Betonung liegt auf einer warmen, nicht-bedrohlichen und nicht-konfrontativen Atmosphäre, in der der Prozess des "Jesus Kennenlernens" möglich ist. In diesem Prozess wird es immer wieder Gelegenheiten – ohne Druck - geben, Jesus anzunehmen. Einige werden eine Zeit brauchen, andere treffen diese Entscheidung schnell, andere werden sie nie treffen.
Die Alpha-Kurse haben sich als gute Möglichkeit erwiesen, mit postmodern denkenden Menschen einen solchen Weg zu gehen. Sie dürfen nicht wieder zu blossen Methoden degradiert werden, sondern sind Gefässe, die immer wieder neu kreativ mit Leben gefüllt werden müssen.
Kreativität und Gemeinschaft
Kreativität – Musik, künstlerischer Ausdruck, Abstraktion, Video usw. – ist ein zentraler Wert in der postmodernen Kultur. Wenn die Sprache des modernen Menschen die Wissenschaft war, ist die Sprache des postmodernen Menschen die Kreativität. Wenn der Weg, zum Glauben zu kommen, für den modernen Menschen der Verstand war, sind diese Wege für die postmoderne Kultur Beziehungen und Gemeinschaft. Unsere Kultur sehnt sich nach persönlicher, nicht-institutioneller Spiritualität. Die Wahrheit kommt aus der Gemeinschaft von Freunden, nicht aus institutioneller Religion.
Es darf hier nicht verschwiegen werden, dass Wahrheit im christlichen Sinne nicht lediglich die Summe der Erfahrungen und Meinungen einer Gruppe ist, sondern dass die biblische Offenbarung dazukommen muss, die der letzte Massstab unserer Erfahrungen und Meinungen ist. Aber diese Offenbarung wird vom postmodernen Menschen in der Regel nur im Gemeinschaftskontext wahr- und angenommen.
Postmodern sensitive Gemeinden (PS-Gemeinden)
Wir brauchen Gemeinden, die sich so ausdrücken, dass postmodern empfindende Menschen einen Zugang zum Evangelium finden, die aber ihre biblischen Grundlagen dabei nicht verleugnen. Darum nenne ich solche Gemeinden nicht "postmoderne Gemeinden" im strengen Sinne, sondern postmodern sensitive Gemeinden.
PS-Gemeinden beginnen in der Regel mit einer lebendigen, interessanten Gemeinschaft von Christen, die grossen Wert auf das geistliche Wachstum ihrer Mitglieder legen. Lehre geschieht durch zupackende Predigt, vorzugsweise Erzählen von Geschichten, und durch alle Art von künstlerischem Ausdruck. Kreative moderne Musik und Theater bestimmen den Stil. Überall ist die Hauptbetonung auf persönlicher Interaktion und Kreativität.
Leiterschaft
Die Leiterschaft ist nicht-hierarchisch und sicher nicht autoritär, sondern partizipatorisch. Der Leiter setzt andere frei, statt institutionelle Macht auszuüben. Man hat das Gefühl, dass die Leiter einfach ein Mitglied der Gemeinschaft ist, das seine Gaben zum Wohl aller einsetzt. Der Leiter ist eher der Vater als der Boss, eher der grosse Bruder als der "Big Brother".
Gemeinschaft
Postmoderne Menschen sind "Individualisten in Gemeinschaft". Sie sind überzeugt, dass der Einzelne die Wahrheit nicht für sich allein verstehen, geschweige denn leben kann und dass Gotteserfahrung nicht ohne Gemeinschaft möglich ist; jedes Individuum ist mit anderen auf mystische Art verbunden. Es gibt in der PS-Gemeinde darum viele kleine Gruppen – nicht einfach "Bibelstudiengruppen", wo es um Vermehrung von Bibelwissen geht, sondern Lebens- und Quartiergruppen, wo man einander dient und ganzheitlich Leben teilt. Geistliches Wachstum wird erlebt, indem der Einzelne in der persönlichen Beziehung und Führung durch Jesus wächst. Das göttliche Paradox wird bewusst ausgehalten, dass Reifung im Christsein bedeutet, immer "Christus-ähnlicher" und gleichzeitig immer menschlicher zu werden. Statt grosser Ziele wie "alle Menschen werden Brüder" sucht man eher den umgekehrten Vorgang...
In der PS-Gemeinde werden sich Menschen eher nach Zielen oder bestimmten Stilen organisieren als nach Alter oder Ort. Multi-Generationale Gruppen bilden sich je nach der Art und Weise, wie sie Dinge sehen und erleben. In der Gemeinschaft wird die "Geschichte erzählt". Hier ist der Ort, wo bewusste Jüngerschaft geschieht. Solche Gruppen und Zellen werden organisch und spontan entstehen und sollten nicht zu sehr organisatorisch verwaltet werden. Geistliche Leiter werden auf natürliche Weise entstehen. Die Gruppe wächst in der Regel bis zu einer gewissen Grösse und teilt sich dann, um geistliche Multiplikation zu ermöglichen. Von daher sind Hauskirchen durchaus eine postmoderne Erscheinung.
Worship
Lobpreis und Anbetung Gottes in der PS-Gemeinde sind authentisch, emotional und partizipatorisch. Alle Sinne des Menschen werden miteinbezogen – einschliesslich über-sinnlicher Erlebnisse. Spontaneität und Liturgie finden beide ihren Platz: das eine ist authentisch, das andere mystisch. Technologie unterstützt, dominiert aber nicht. Gott muss gegenwärtig und erlebbar sein. Der Leiter muss das eliminieren, was von der Erfahrung Gottes ablenkt – er muss diese Erfahrung nicht selbst herstellen. Er muss sich selbst auch so sehr wie möglich im Hintergrund halten. Symbole werden eingebracht, und paralleler, spontaner künstlerischer Ausdruck – z.B. auf einer Sprayer-Wand hinten im Raum – bringt neue Dimensionen der Anbetung.
Zeugnisse, Symbole, Paradoxe, Parabeln und Geschichten
Der aufgeklärte moderne Mensch suchte vor allem eine klare Darstellung von Fakten. Postmodern empfindende Zeitgenossen suchen Zugang zu persönlicher Erfahrung. Zeugnisse – nicht unbedingt von der Bekehrung vor 10 Jahren, sondern wie ich Gott im Alltag erlebe – sind wichtig.
Symbole sind die künstlerische Ausdrucksweise einer Wahrheit. In den letzten 500 Jahren hat sich die Kirche vor allem im reformierten Bereich mit Erfolg der meisten Symbole entledigt – sicher z.T. mit guten Gründen. Heute werden sie wieder wichtig. Sie lassen Raum zu persönlicher Interpretation, für den postmodernen Menschen ein wichtiger Punkt. Abendmahl und Taufe sind auch "Symbole" und sollten bewusst eingesetzt werden. Eine PS-Gemeinde hat die urchristliche Sitte wieder eingeführt, jedem Neugetauften ein bisschen Salz auf die Zunge zu legen, wenn er/sie aus dem Wasser steigt – dies in Erinnerung, dass wir nun "Salz der Erde" sind und unsere Rede mit Salz gewürzt sein soll. Kerzen, die sich in einem dunklen Raum in einer Kettenreaktion anzünden, oder die bekannten WWJD-Armbänder sind eine Art von Symbolen, die wichtige Botschaften ausdrücken.
Das Paradox ist ein weiteres wichtiges Ausdrucksmittel des postmodernen Denkens. Die Bibel benutzt es ausführlich, um geistliche Realität jenseits einer billigen Entweder-Oder-Logik auszudrücken: die Ersten werden die Letzten sein (und umgekehrt), der Grösste muss dienen, Gottes Kraft wird in Schwachheit vollkommen und Seine Schätze werden in irdenen Gefässen aufbewahrt. Postmoderne Menschen wollen keine rationale Auflösung, sondern die Tiefe des Geheimnisses stehenlassen.
Gleichnisse und Geschichten schliesslich: wer hätte sie besser erzählt als Jesus selbst? In PS-Gemeinden werden sie erzählt, gespielt und demonstriert. Aber auch unsere Zeit gibt reichlich Stoff für neue Parabeln für Menschen, die nicht unbedingt in der ländlichen orientalischen Welt des 1. Jahrhunderts leben. Gerade gestern erlebte ich einen Jugendgottesdienst zum Thema "James Bond". Die Predigt, untermalt vom "paba-pabaa" der Bond-Titelmusik und illustriert durch Plakate und Spots, orientierte sich an folgenden geistlichen Filmtiteln:
- The World is not enough
- Tomorrow never dies
- Im Geheimdienst seiner Majestät
- Man lebt nur zweimal
- Sag niemals nie
Der Klassiker der postmodernen Verkündigung ist mittlerweile der Film The Matrix (1999); ganze Glaubenskurse sind ausgehend von diesem Film entwickelt worden.
Strukturen
Probleme und Lösungen werden von postmodernen Menschen nicht als langfristig betrachtet; darum haben sie kein grosses Interesse, unflexible Langzeit-Strukturen aufzubauen. Organisches Leben wird als wichtiger empfunden als die Organisation. Es wird eine der Haupt-Herausforderungen für eine PS-Gemeinde sein, Strukturen zu schaffen, die effektiv genug sind, um dem Leben zu dienen und gleichzeitig flexibel genug, um u.U. in kurzer Zeit schon wieder modifiziert oder gar ersetzt zu werden. Strukturen dienen dem Leben, nicht umgekehrt.
Die PS-Gemeinde muss sich relativieren. Sie wird als Mittel und Ressource angeschaut, eine Gemeinschaft mit Gott aufzubauen, nicht aber als der einzige Ort, wo diese Gemeinschaft geschieht. Loyalität geschieht nicht institutionell oder gar denominationell, sondern persönlich.
In der Praxis wird eine PS-Gemeinde zunehmend wie ein "Garten" sein, in dem viele unterschiedliche Blumen wachsen, gepflegte und wilde, statt eines Baumes mit einem einheitlichen Wurzelsystem. Und statt eines grossen Gebäudes wird es zunehmende mehrere Treffpunkte geben, und zwar an Orten, wo Menschen sowieso sind: in Cafés, Einkaufszentren, vielleicht Theatern.
Visionen-Pluralismus
Die Strukturen einer PS-Gemeinde müssen verschiedene Visionen und Modelle nebeneinander ermöglichen. So kann eine Gemeinde neben dem klassischen Gottesdienst durchaus eine Jugendkirche unter ihrem Dach beheimaten und vielleicht sogar ein Netz von Hauskirchen. Viele postmoderne Menschen wünschen sich eine "schlanke" geistliche Existenz: neben ihrer verbindlichen Hauskirche oder –zelle möchten sie an einem konkreten Ort in der Gesellschaft ihre Vision verwirklichen, nicht aber den ganzen "Betrieb" einer traditionellen Gemeinde mitmachen müssen.
Da es weniger Unterscheidung zwischen dem Säkularen und dem Geistlichen gibt, werden Menschen vieles in die Gemeinde bringen und unter ihrem "Dach" zu verwirklichen versuchen, was früher Tabu war oder zumindest als weltlich empfunden wurde. Neben sozialen Aktivitäten, die schon immer Domäne von Christen waren, werden kulturelle, ästhetische, sportliche oder wirtschaftliche Projekte treten. Die PS-Gemeinde wird sich von einer geschlossenen Box zunehmend zu einer offenen "Holding" entwickeln. Das Ideal ist nicht mehr das Gebäude mit festen Mauern, sondern eher das Marktdach mit vielen verschiedenen Ständen darunter.
Mir ist bewusst, dass diese Gedanken das Thema nur andenken. Ich möchte zum Thema Postmoderne eine offensive Diskussion auslösen, wo im deutschsprachigen Raum bisher vor allem Abwehr oder – schlimmer – Verdrängung und Schweigen vorherrschen. Es scheint mir, dass die postmoderne Diskussion im pragmatischeren Amerika offensiver und konstruktiver geführt wird. Ich hoffe, dass diese Themen einmal auf einem Symposium aufgegriffen werden, und zwar nicht nur in esoterisch-philosophischen Zirkeln, sondern greifbar für normale Leiter und Verkündiger wie mich.
Quellen:
- Aufsatz "Dry Bones in the West" von Rose Dowsett, aus: "Global Missiology for the 21st Century – The Iguassu documents", William D. Taylor, Editor. Baker Books 2000.
- "The Gospel and Postmodernism" und "Practical considerations of postmodern sensitive churches" – unveröffentlichte Aufsätze von Ross P. Rhode, Missionar in Spanien
- "Post-Modernity – A Global Weather Change? " – Aufsatz von Jeff Fountain; www.hfe.org/resource/articles/postmod.htm
- A New Kind of Christian: A Tale of Two Friends on a Spiritual Journey von Brian D. McLaren, Jossey-Bass, 2001
Ein Buch, das mich und einige Freunde wie kaum ein anderes auf eine Reise in eine mögliche Zukunft christlichen Lebens, Denkens und Dienstes mitgenommen hat
- The church on the Other Side – doing Ministry in the postmodern Matrix von Brian D.McLaren, Zondervan 2000
- Gespräche mit dem postmodernen Verkündiger, Künstler und Vordenker Andrew Jones (Prag).
tallskinnykiwi@hotmail.com
- Seminar "Postmoderne" von Wolfgang Bittner, Mitschrift aus einem Seminar in der FEG Steffisburg im Jahre 1995
Datum: 03.11.2003
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Focusuisse