Angesichts neu aufkommender Autokratie

Die tunesische Kirche ringt um Standhaftigkeit

In Tunesien schwindet die Hoffnung
Die Hoffnungen auf eine dauerhafte demokratische Transformation in Tunesien schwinden, während Präsident Kaïs Saïed seine Macht festigt. Das einst vielgelobte demokratische Fortschrittsmodell wird zunehmend von politischer Repression verdrängt.

Vor fast fünfzehn Jahren hallten die Rufe nach Demokratie aus Tunesien – wo damals der «Arabische Frühling» begann – durch den gesamten Nahen Osten und Nordafrika. Der Sturz von Diktatoren weckte bei Millionen Menschen neue Sehnsüchte nach Freiheit. Heute nutzt Präsident Kaïs Saïed seine wachsende Autorität, um jede Form von Opposition zum Schweigen zu bringen.

In der vergangenen Woche verurteilte ein tunesisches Gericht fast vierzig Politiker, Medienschaffende und Wirtschaftsvertreter zu teils drakonischen Haftstrafen – einige von ihnen müssen bis zu 66 Jahre ins Gefängnis. Die Urteile sind Teil einer alarmierenden Serie staatlicher Repressionen gegen Personen und Gruppen, die als Bedrohung für Saïeds Machtanspruch gelten. Die Vielzahl der Verhaftungen und die Härte der Strafen lassen eine bedrohliche Eskalation des autoritären Kurses befürchten.

Rückkehr zu Autokratie

2014 fanden freie Wahlen statt, das Land erhielt den Friedensnobelpreis und galt als Vorbild friedlicher demokratischer Übergänge. Doch nach seiner Wahl vor sechs Jahren begann der frühere Juraprofessor Kaïs Saïed, diese Errungenschaften systematisch abzubauen – im Namen einer nationalen Identität, die vor allem arabisch, muslimisch und unpolitisch sein soll.

Das Regime nutzt nun die volle Staatsmacht gegen Kritiker – und die christliche Minderheit gerät zunehmend ins Visier. In der neuen Verfassung verpflichtete sich der Staat dazu, den Islam zu schützen und seine Vorrangstellung zu sichern. Ein Verfassungsrechtler sprach von der Gründung eines religiösen Staates. Zwar ist das Christentum in Tunesien nicht per se illegal, aber die Behörden setzen zunehmend bürokratische Schikanen ein – etwa bei Versammlungs- und Baugenehmigungen –, um kirchliche Aktivitäten zu behindern.

Christentum ist Teil der tunesischen Geschichte

Ironischerweise reicht die christliche Präsenz auf dem Gebiet des heutigen Tunesiens bis in die ersten Jahrzehnte nach der Auferstehung Jesu zurück – auch wenn die genaue Ausbreitung des Evangeliums in der Region schwer zu rekonstruieren ist.

Der berühmte Kirchenvater Tertullian, um 160 in Karthago (heute ein Vorort der Hauptstadt Tunis) geboren, legte die Grundlage für zentrale Glaubenslehren. Er beeinflusste den Märtyrer Cyprian und später Augustinus, den Bischof von Hippo (heute Annaba in Algerien). Das Christentum war bis zur arabisch-muslimischen Eroberung im 7. Jahrhundert tief in Nordafrika verwurzelt, blieb danach aber nur als kleine Minderheit bestehen – eine Minderheit, die bis heute überdauert.

Astrologe wurde verändert

Das Leben von Pastor William Brown von der Reformierten Kirche hat sich indes kaum verändert. An einem gewöhnlichen Sonntag durchquert er ein Viertel mit französisch-kolonialer Architektur und gelangt schliesslich in das Gotteshaus in der Hauptstadt Tunis, um zu predigen.

Die rund 120 Gemeindemitglieder kommen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen. Einer war einst Astrologe, dessen Weltbild durch das Lesen der Bibel völlig erschüttert wurde – heute leitet er die Liturgie. Eine andere stiess im Internet auf das Christentum, sprach mit ihrer Mutter darüber und erlebte deren Ablehnung. Jahre später erschien ihr Jesus im Traum und forderte sie auf, die Bibel zu lesen. Eine dritte ist eine junge Tunesierin, die nach ihrer Abkehr vom Islam erst dem Kommunismus folgte, dann aber auf der Suche nach einem höheren Sinn kürzlich getauft wurde.

Viele kommen aus Subsahara-Afrika

Die meisten Gemeindemitglieder stammen aus Ländern südlich der Sahara. Einige sind Studenten in Tunis, andere durchreisen das Land auf dem Weg nach Europa. Auch ein paar amerikanische und kanadische Expatriates besuchen regelmässig den Gottesdienst.

Brown, geboren in Virginia und aufgewachsen in Westafrika als Sohn von Missionaren, lebt seit 2002 in Tunis. Er erlebte den Aufbruch des «Arabischen Frühlings» 2011 hautnah – jenes von Tunesien ausgehende Signal der Hoffnung auf Menschenrechte und Religionsfreiheit in der Region.

Heute jedoch ist das Land zu einer autoritären Herrschaft zurückgekehrt. Saïed betrachtet das Christentum als fremden Einfluss, der nicht zum tunesischen Lebensstil passe – und als Bedrohung für sein nationalistisches Ideal einer rein arabisch-muslimischen Identität.

Immer mehr Vorschriften

Pastor William Brown verbringt inzwischen viel Zeit damit, sicherzustellen, dass seine Gemeinde alle Vorschriften genau einhält. Gottesdienste in Privathäusern werden begrenzt, ein vom Innenministerium gestellter Sicherheitsbeamter überwacht die Kirche.

Die wachsende Ablehnung gegenüber Migranten erschwert das Leben vieler Christen zusätzlich. Rund 16’500 Geflüchtete und Migranten aus Subsahara-Afrika sind beim UN-Flüchtlingshilfswerk registriert – viele andere halten sich ohne Papiere im Land auf.

Saïed stempelt diese meist christlichen Migranten als Gefahr für das nationale Gefüge ab und macht sie zu Sündenböcken für die wirtschaftlichen Probleme Tunesiens. 2023 behauptete er gar, sie seien Teil eines «kriminellen Komplotts».

Beweise dafür gibt es keine – doch die Rhetorik hat rassistische Gewalt salonfähig gemacht: Raubüberfälle, Messerattacken, willkürliche Verhaftungen und sogar Berichte über Misshandlungen und sexualisierte Gewalt bei Abschiebungen nach Libyen mehren sich. 2023 nahm die Polizei 1’200 Migranten fest und zerstörte deren Habseligkeiten.

Was bereits Augustinus wusste

Brown warnt neue Gläubige davor zu glauben, ihr Glaube werde ihr Leben automatisch erleichtern. In seinen über zwanzig Jahren in Tunesien war die wirtschaftliche Lage stets schwierig, und für viele ist ein Leben in stabilen Verhältnissen bis heute nur ein ferner Traum.

Wie Augustinus einst schrieb, der einen Grossteil seines Wirkens in Karthago verbrachte: Gottes Gnade diene «nicht dazu, den Guten das Leid zu ersparen, sondern ihnen die Kraft zu geben, es mutig zu ertragen – mit einem Glauben, der die nötige Stärke verleiht.» Dieser augustinische Geist wird für die Kirche in Tunesien zunehmend lebensnotwendig.

Angesichts willkürlicher Repressionen, Verhaftungen und Einschüchterungen wächst unter politischen, ethnischen und religiösen Minderheiten die Unsicherheit.

Tunesien – einst Hoffnungsträger für Selbstbestimmung in der arabischen Welt – steht heute am Abgrund. Der demokratische Rückfall, gepaart mit Nationalismus, Isolationismus und Autokratie, droht eine neue Ära der Unterdrückung einzuläuten – und die Hoffnungen des Arabischen Frühlings endgültig zunichtezumachen.

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Datum: 02.05.2025
Autor: Luke Waggoner/Daniel Gerber
Quelle: Info Chrétienne/gekürzte Übersetzung: Livenet

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