US-Christen denken über die Zukunft nach
Fast vier von fünf «Evangelicals» stimmten vermutlich für den Republikaner Mitt Romney, nach Angaben von ‚Christianity Today‘ ein Rekordanteil. In den späten Achtziger- und Neunzigerjahren war das Verhältnis 2:1. Doch «wo Evangelicals weitgehend einmütig waren, verloren sie auch». Besonders schmerzt die christlichen Kommentatoren, dass Eherechte für homosexuelle Paare (gay marriage) erstmals in Volksabstimmungen bejaht wurden (Bundesstaaten Maine, Maryland, Washington); zuvor hatten Richter oder Parlamente sie beschlossen.
Positiv vermerkt wird dagegen das starke Ja der kalifornischen Wähler zu härteren Strafen für Menschenhändler. Die Initiative hatte die aus Vietnam stammende christliche Aktivistin Daphne Phung ergriffen. Die Bürger von Massachusetts lehnten die ärztliche Beihilfe zum Suizid ab – die nordwestlichen Randstaaten Oregon und Washington bleiben mit ihrer Euthanasie-Erlaubnis allein.
Weltanschauliche Herausforderung
Sind die Christen im Begriff, die Auseinandersetzung um die moralischen Grundlagen der Gesellschaft, den so genannten Kulturkrieg (culture war), zu verlieren? Ed Stetzer von LifeWay Research vermutet es. Es gehe nun darum, die Religionsfreiheit zu verteidigen. Ähnlich äussert sich Albert Mohler von den Südlichen Baptisten: Für Evangelicals bedeute der Wahlausgang eine Katastrophe an entscheidenden ethischen Frontabschnitten. Die weltanschauliche Herausforderung sei die grösste: «Wir müssen lernen, wie wir Amerikaner auf gewinnende Weise überzeugen können, so dass sie unsere ethischen Überzeugungen zu Ehe, Sexualität, der Heiligkeit des Lebens und weiteren ethischen Streitfragen teilen.»
Politik – nicht die Hauptsache
Richard Stearns von World Vision ruft die US-Christen auf, sich der Hauptsache zuzuwenden. Sie sollten, statt den Niedergang des christlichen Amerika zu bejammern, dem Vorbild von Jesus gemäss alternativ leben und Gottes Charakter darstellen: «seine Liebe, seine Gerechtigkeit, sein Erbarmen, seine Vergebung und seine Versöhnung». George O. Wood, Leiter der grossen Pfingstkirche (Assemblies of God), appelliert an die Christen, «das Beste der Stadt» zu suchen und plädiert für «Gebet, Evangelisation, Taten fürs Gemeinwohl, Bürgersinn und Vorbild». Christen hätten anhaltend für die politischen Verantwortlichen zu beten.
Das tägliche Brot
J. Lee Grady, Kolumnist des Charisma-Magazins, und andere bedauern, dass der von vielen als scheusslich empfundene Wahlkampf Christen gegeneinander aufbrachte. «Stecken wir im selben Stillstand fest wie unsere Politiker?» Er regt an, das Unser Vater-Gebet auf die Lage im Land zu beziehen, und formuliert zur Bitte ums tägliche Brot: «Herr, unsere Wirtschaft ist in Nöten und so viele Amerikaner sind ohne Arbeit, ohne Obdach und hungrig. Wir gehören noch zu den wohlhabendsten Nationen, aber wir haben uns der Gier schuldig gemacht …».
Gespaltenes Land
Die NZZ hat Kommentare von US-Intellektuellen eingeholt, die deutlich machen, wie tief gespalten das Land ist. Radikale Positionen der Republikaner hätten sie die Stimmen von urbanen Frauen, Schwarzen und Hispanics gekostet. In den ethnisch gemischten Küstengebieten im Osten und Westen könnten sie so keine Wahl mehr gewinnen, meint der Politphilosoph Mark Lilla. David Frum, der für G.W. Bush Reden schrieb, schreibt, der amerikanische Konservatismus müsse «in einer Weise neu definiert werden, die ökonomisch alle Einkommensgruppen einschliesst, kulturell fortschrittlich und darüber hinaus umweltfreundlich ist».
Christliche Prägung verblasst
Hendrik Herzberg vom ‚New Yorker‘ konstatiert angesichts der Zustimmung zu ‚gay marriage‘ an den Urnen den «unerwarteten Sieg des kulturellen und sozialen Liberalismus und Säkularismus». Hätten die Republikaner sich in der Abtreibungsfrage nicht so versteift, hätten sie die Mehrheit im Senat zurückgewinnen können. Allerdings, so der Publizist Michael Massing, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die US-Bürger nach vier Jahren Obama der Regierung deutlich weniger zutrauen. «Die Feindseligkeit gegenüber dem Staat … ist so massiv wie eh und je.»
Von der Staatsverschuldung, die den horrenden Betrag von 16 Billionen Dollar (16‘000‘000‘000‘000) erreicht hat, schweigen die Kommentare – noch genug wird sie die Bürger des Landes beschäftigen, dessen alter und neuer Präsident seinen Anhängern nach geschlagener Schlacht zurief, es habe seine besten Zeiten noch vor sich …
Datum: 13.11.2012
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet