Modern ausgedrückt heisst Diakonie Dienstleistung am Menschen. Sie unterstützt, begleitet und berät, und das immer mit dem Ziel, dass es den Ratsuchenden danach besser geht. Nach seinem griechischen Ursprungs heisst das Wort Diakonie zunächst einmal nichts anderes als dienen. Der Diakonos war derjenige, der das Essen servierte und wieder abtrug, also ein öffentlicher Diener. Diakonie ist Christsein in der Öffentlichkeit, gelebter Glaube. Hans-Peter Lang, Delegierter des Stiftungsrates der Stiftung Wendepunkt in Muhen, eröffnete seinen Vortrag mit einer Bestandesaufnahme. Unsere Kultur habe sich in der Zeit der Aufklärung aus den Fesseln der Kirche gelöst. Die Verantwortung für Erziehung, Gesundheitswesen und soziale Wohlfahrt sei immer mehr zum Staat übergegangen. Jetzt aber habe dieser kaum mehr Ressourcen, wie Lang gab zu bedenken gab. 150'000 Stellensuchende, über 200'000 IV-Bezüger und etwa 200'000 Fürsorgeempfänger würden in der Schweiz sozialstaatliche Leistungen beziehen. Das sei jedoch nur die Spitze des Eisberges. Unterschiedliche Armutsstudien würden belegen, dass heute lediglich 10 bis 20 Prozent der Berechtigten ihren Anspruch geltend machen würden. „Wie viele Christen beschäftigen sich mit solchen Fakten? Ich weiss es nicht!“ Er wisse jedoch, so Lang, dass Jesus sich immer für die Schwachen eingesetzt habe. Die Äusserung eines Berner Journalisten, das Christen einer Randgruppe angehören würden, über die es sich nicht lohne zu schreiben, habe ihn nachdenklich gestimmt. „Dieser Zustand entspricht nicht dem Plan Gottes“, bemerkte der Referent. Vielmehr gehöre Gottes besondere Liebe gerade den Schwächsten. Wenn die Christen aber Probleme der Gesellschaft nicht mehr wahrnähmen, dann würden sie sich selber in ein Randgruppendasein begeben. Altregierungsrat Peter Wertli, Aargau, habe einmal festgestellt, dass der Staat Christen brauche für die Arbeit, die er nicht mehr übernehmen könne. Hans-Peter Lang plädierte in diesem Zusammenhang für Begegnungszentren als Anlaufstellen für die verschiedensten sozialen und gesellschaftlichen Probleme und Nöte. Dazu müssten die Kirchgemeinden Verantwortungsträger im Sozialbereich ausbilden, empfahl Lang. Gemeinsam und in freiweiliger Arbeit gebaute Siedlungen war ein weiterer Vorschlag von Lang. Die Gemeinden könnten dort Wohnungen mieten und sozialschwachen Menschen und Familien eine Abhängigkeit von der Sozialhilfe ersparen. Zudem würde günstiges begleitetes Wohnen ermöglicht. Hans-Peter Lang gründete vor zehn Jahren die Stiftung Wendepunkt. Sie ist ein christliches Sozialwerk zur Betreuung, Begleitung und Wiedereingliederung von Arbeitslosen, Ausgesteuerten, psychisch Behinderten und Asylbewerbern. In der Stiftung arbeiten gegenwärtig etwa 100 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie über 400 benachteiligte Menschen. Hans-Peter Lang gehört zur Heilsarmee und setzt sich aktiv für die Verbreitung des Diakoniegedankens in christlichen Gemeinden ein. Der andere Hauptreferent, Eckhard Kohl, Pastor der Freien Missionsgemeinde (FMG) Frutigen, eröffnete seinen Vortrag mit einer Anekdote: Man fragte einmal Leonard Bernstein, den berühmten Orchesterdirigenten, welches das schwierigste Instrument sei. Geistesgegenwärtig antwortete er: "Die zweite Geige. Ich kann viele gute erste Geiger bekommen. Aber einen zu finden, der mit gleicher Begeisterung die zweite Geige spielt, ist wirklich ein Problem. Aber wenn niemand die zweite Geige spielt, dann haben wir keine Harmonie." So sei es in der Musik, und so sei es auch in der Gemeinde. Auch da fehle manchmal die Harmonie – insbesondere zwischen Verkündigung und Diakonie. Ein Christ sei einmal von einem Obdachlosen angesprochen und um Hilfe gebeten worden. Leicht verärgert habe er am nächsten Sonntag seinem Pastor erzählte, dass der Mann unbedingt Hilfe gebraucht und er auch auf dem Gemeindesekretariat angerufen hätte. Aber da hatte keiner Zeit. Er selber hätte ihn dann halt eine Woche bei sich wohnen lassen. Solchen Menschen aber sollte doch die Gemeinde helfen! Der Pastor habe ein Moment überlegt und geantwortet: "Mir scheint, das hat sie in diesem Fall bereits getan!" Seine Gemeinde in Frutigen stehe in Sachen Diakonie noch in den Anfängen. „Wir haben viele, die bereits Diakonie betrieben haben. Dann haben wir das DAN-TEAM (Dienst am Nächsten) gegründet. Es bietet Besuchsdienste an, kleine Reparaturen, Mahlzeiten, allgemeine Hausarbeiten, Pflege bis zu einem gewissen Grad, das Erledigen von schriftlichen Arbeiten und sonstige Einsätze wie das Sammeln und Sortieren von Hilfsgütern“, berichtete Kohl. Allerdings lasse man sich manchmal gar nicht so gerne helfen. Es gehe einem ja noch gut, und so scheue man sich oft, Hilfe anzunehmen. Dennoch gebe es viel Not: „Bei uns in Frutigen sieht man vordergründig wenig – irgendwie ist die Not sehr oft hinter den Türen des Wohlstandes versteckt. Die einen wollen sie nicht zeigen, und die andern, zu viele Christen, wollen sie nicht sehen. Sie haben sich an ein Christsein gewöhnt, was man weniger mit Nachfolge und Jüngerschaft zu tun hat als mit Stuhlschaft: Man lebt das Christsein vor allem im Gottesdienst auf den Stühlen aus“, erläuterte Kohl seine Sicht der Lage. Wer das Evangelium von Christus richtig verstanden habe, der helfe auch gern, versicherte Kohl. „Wir müssen wieder anfangen zu leben, wie Jesus es getan hat. Jesus war immer da zu finden, wo die anderen nicht waren: bei Menschen in Not; bei Kranken, Aussätzigen, Lahmen, Blinden, Prostituierten, Witwen, Zöllnern, Verlorenen. Allen hat er geholfen, allen hat er gedient. Irgendwie müssen wir den Ausgleich wieder schaffen zwischen Lehre und Predigt und einem praktizierenden Glauben.“ Ein Problem bleibe, führte der Vortragende weiter aus: Man müsste massenhaft Zeit haben. In Tat und Wahrheit habe man davon aber immer weniger. Doch was würden alle Predigten und Diakonietage nützen, wenn man an diesem heiklen Punkt nicht über die Bücher gehe, schloss Kohl seine Ausführungen ab. „Dienen braucht Zeit, und Menschen brauchen Zeit.“ Die anschliessende Podiumsdiskussion leitete Pastor Dieter Bösser. Neben den beiden Hauptreferenten nahmen daran ferner teil: Anita Sieber, Mitarbeiterin der Drogenentzugsstation Marchstei, Walter Donzé, EVP-Nationalrat aus Frutigen, Urs Gerber, Diakonische Stadtarbeit Elim, Basel, sowie Kurt Rösti, Mitarbeiter des Wendepunktes. In der Diskussion herrschte weitgehend Übereinstimmung zum vorher Gehörten. Die Teilnehmer erweiterten die Vorträge mit Beispielen aus ihrer eigenen Praxis. Eckhard Kohl ist Pastor der Freien Missionsgemeinde (FMG) Frutigen. Er besuchte die Bibelschule Beatenberg. Einige Jahre war er Jugendsekretär der Vereinigung Freier Missionsgemeinden. Kontakte zu Menschen ausserhalb der Gemeinde sind ihm wichtig. Die FMG hat ein breitgefächertes Angebot an diakonischen Hilfeleistungen, vor allem für Gemeindeglieder. Eckhard Kohl engagiert sich aber auch gezielt für Unterstützungsbedürftige ausserhalb der Gemeinde.Die Christen nur eine Randgruppe?
Praktische Schritte
Wer spielt die zweite Geige?
Versteckte Not
Datum: 03.06.2003
Autor: Bruno Graber
Quelle: Livenet.ch