„Wir werden den Atomriesen besiegen!“ verhiessen die Sowjet-Propagandisten im Mai 1986 der ebenso desinformierten wie auf materialistische Technikgläubigkeit getrimmten Bevölkerung. Die Helikopter-Piloten, die über den Reaktor flogen, um Material auf seinen bläulich glühenden Kern abzuwerfen, gaben in sowjetischem Heroismus ihr Leben hin. Von Sieg konnte keine Rede sein. In jenen tragischen, schicksalshaften Wochen zerbrach der Kitt zwischen Bevölkerung und Regime in der Sowjetunion vollends. Düsteres Misstrauen gegenüber der Funktionärselite bemächtigte sich der Menschen, weil das KGB die GAU-Dimension der Kernschmelze verheimlichte und auch der Reformer Gorbatschow die Fakten nicht zeitig auf den Tisch legte. Glasnost war erledigt – Tschernobyl läutete das Ende der roten Supermacht ein. Dies zeigte sich später auch in einer repräsentativen Umfrage, die ‚Angst vor technischen Gross-Unfällen‘ als die meist verbreitete Zukunftsbefürchtung ergab. Die roten Mandarine, die kommunistischen Herrscher in Peking, sind derzeit nicht mit einer Reaktorkatastrophe konfrontiert. Sars ist kein GAU, kein „grösster annehmbarer Unfall“ – aber wohl ein tiefer Einschnitt in die Geschichte der Volksrepublik. Wenn unzählige Einwohner der Hauptstadt in Panik auf die Bahnhöfe eilen, in der Hoffnung, in entlegene Dörfer flüchten zu können, wenn Millionen von Schulkindern zu Hause bleiben müssen, wenn Spitäler hermetisch abgeriegelt werden – dann zeigt das die tiefe Unruhe im Zentrum des aufstrebenden Reichs der Mitte, das im Welthandel im letzten Jahr zur fünftgrössten Nation aufrückte (mit einem Wachstum von Import und Export von über 20 Prozent!). Die chinesischen Behörden haben monatelang die Gefahr von Sars geleugnet und verschleiert. Jetzt wurden erste Funktionäre abgesetzt, ein Zeichen dafür, dass die Alarmglocken nun gehört werden. Doch damit ist die Lungenkrankheit nicht eingedämmt. Hongkong und weitere Schauplätze des chinesischen Wirtschaftswunders gehen schweren Zeiten entgegen, wenn sie sich weiter ausbreiten sollte. Eine Regierung, die ihre Bevölkerung fahrlässig tödlicher Gefahr aussetzt, versagt in ihrer ersten Aufgabe. Wie Urs Schoettli gestern in der NZZ schrieb, wurden „die Geheimnistuerei und das Herunterspielen der chinesischen Behörden damit begründet, dass man die Bevölkerung nicht alarmieren wollte. Genau das Gegenteil wurde damit erreicht. Selbst wenn nun die Obrigkeit die Wahrheit berichten sollte, trifft sie damit auf nichts als Unglauben und Skepsis.“ Fortschritt und das Mittanzen auf dem globalen Parkett vertragen sich nicht mit Zwang und Lüge. Nachhaltiges Fortschreiten erfordert Transparenz und Wahrheit. Manche nüchterne Beobachter geben der Diktatur der Kommunisten, der Macht, die seit Maos Zeiten und auch 1989 aus den Gewehrläufen kam, nur noch wenige Jahre. Sars könnte den Zerfall der arroganten Herrschaft der roten Mandarine, die ihren Untertanen die Glaubensfreiheit weiterhin vorenthalten, beschleunigen. Dass gerade in diesen Tagen der schweizerische Verteidigungsminister Samuel Schmid den Nordosten Chinas bereist, frohgemut (ohne Gesichtsmaske) in Peking weilt und die Gemeinsamkeiten von schweizerischem und des chinesischem Wehrwesen hervorhebt, mutet irgendwie befremdlich an...
Datum: 26.04.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch