Grossbritannien

Verhältnis von Staat und Kirche im Umbruch

Die anglikanische Kirche sucht beim Rückbau des britischen Sozialstaats neue Chancen zur Kooperation vor Ort zu nutzen, während Bischöfe und Priester Richtung Rom abspringen.
Canterbury Cathedral. (Foto: Wikipedia, Hans Musil)
Rowan Williams, der Erzbischof von Canterbury. (Foto: Wikipedia, Brian)
Dennis Pethers.

Im Frühjahr hat die neugewählte britische Regierung Cameron-Clegg ihr «Big Society»-Programm zum Abbau der Bürokratie und zur Aktivierung kommunaler Initiativen vorgestellt. Die Landessynode der Church of England wird am 23. November über das kirchliche Engagement beraten. Im Juni hatte der Bischof von Leicester im Oberhaus eine Debatte zum Vorhaben lanciert. Es folgten Gespräche mit Ministern, um abzuklären, wie sich Pfarreien an kommunalen Vorhaben beteiligen können.

Freiwillige noch mehr gefordert

Der Synode liegt ein Bericht vor. Es geht um die Förderung sozialen Zusammenhalts vor Ort durch ehrenamtliche gemeinnützige Tätigkeit. «Auch wenn noch Fragen offen sind, sollte die Kirche sich um Synergien zwischen ihrer eigenen Vision der Gesellschaft und Aspekten des Big-Society-Konzepts der Regierung bemühen», schreibt die Kommission, die den Bericht erstellt hat. Das Konzept sei eine Chance, die Rolle von Religion im öffentlichen Leben Grossbritanniens neu zu bestimmen. Der Staat soll gewisse Aktivitäten der anglikanischen Kirche «zur Förderung des sozialen Zusammenhalts» finanziell unterstützen. In diesen Partnerschaften will die Kirche vorbildlich (best practice) agieren und zugleich ihre Autonomie bewahren. Die Labour-Regierungen hatten regelmässig betont, das öffentliche Leben ohne Kirche gestalten zu wollen.

…und auf dem Land?

Die radikalen Einschnitte, die die Koalitionsregierung plant, haben indes auch in Kirchenkreisen Besorgnis ausgelöst. Rowan Williams, der Erzbischof von Canterbury, forderte Anfang November an einer Konferenz, dass die psychiatrische Versorgung auf dem Land nicht zurückgefahren wird. Abseits der städtischen Gebiete seien Freiwillige bereits extrem belastet; der Staat dürfe sich hier nicht zurückziehen und Kranke und Schwache ihrem Schicksal überlassen. Williams sprach sich auch für die verstärkte örtliche Zusammenarbeit mit Methodisten aus. Wo möglich, sollten die Kirchen parallele Tätigkeiten zusammenlegen und «zu zeigen versuchen, dass die Kirche aus dem Stammesdenken ausbricht».

Grösserer Exodus 2012 absehbar

Schlagzeilen gemacht haben zuletzt die 50 Geistlichen, die zur römisch-katholischen Kirche übertreten wollen. Unter ihnen sind fünf Bischöfe. Als Grund führen sie die offene Haltung der Kirchenleitung zu homosexuellen Geistlichen und den Beschluss zur Ordination von Bischöfinnen an. Der romfreundliche Flügel der anglikanischen Staatskirche hatte vor Jahren die Öffnung des Priesteramts für Frauen nicht verhindern können. Dass die letzte Synode im Juli grünes Licht für Bischöfinnen gab und dabei kaum Rücksicht nahm auf die ablehnenden traditionalistischen Kreise, hat das Fass zum Überlaufen gebracht.

Andrew Burnham, Bischof von Ebbsfleet, der katholisch wird, hielt fest, die Kirchenleitung habe ihre Zusagen mehrfach gebrochen. Laut der Zeitung «Daily Telegraph» warten die meisten romfreundlichen Anglikaner bis 2012, wenn die Paragraphen zur Weihe von Bischöfinnen beschlossen werden sollen. Keith Newton, der ebenfalls übertretende Bischof von Richborough, kritisierte die Beliebigkeit in der Kirche. «Es gibt in der Lehre der Kirche keine Gewissheit mehr. Alles ist relativer geworden.»

Konversion – und dann?

Die römisch-katholische Kirche will die Geistlichen Anfang 2011 aufnehmen; der Vatikan wird für sie eigene Regelungen treffen. Wie die katholischen Diözesen die prominenten Geistlichen integrieren, bleibt abzuwarten. Mit ihnen dürften Hunderte Gläubige die Staatskirche verlassen. Es hange von der Church of England ab, wie viele ihrer Mitglieder sich nicht mehr heimisch fühlten, sagte der katholische Bischof von Nottingham Malcolm McMahon: «Es liegt nicht im Interesse der katholischen Kirche, die anglikanische Kirche aufzubrechen.» Irritiert gibt sich anderseits das anglikanische Oberhaupt Rowan Williams: Der Vatikan habe den Beschluss, für konvertierende Geistliche ein eigenes Ordinariat zu schaffen, ohne «wirkliche Beratung» mit der anglikanischen Kirche gefasst.

Gleich viele oder mehr Gottesdienstbesucher

Der Aderlass trifft die Church of England zu einer Zeit, da die Schrumpfung der Mitgliederzahlen, die viele Jahre anhielt, fürs erste gestoppt scheint. Das wird in Medien als Korrektur der weitverbreiteten Annahme gewertet, die Säkularisierung schreite fort und Religion habe im öffentlichen Leben immer weniger zu melden. Im August gab die «Christian Research»-Forschungsstelle die Ergebnisse der neusten Studie bekannt. Danach hat sich der anglikanische Gottesdienstbesuch seit 2001 bei knapp unter 1,2 Millionen eingependelt. Mindestens einmal monatlich gehen etwa 1,7 Millionen Briten zum Gottesdienst. Die Katholiken zählen seit 2005 gut 900.000 Besucher (in Leserkommentaren wird auf die massenhafte Zuwanderung von Polen hingewiesen); bei den Baptisten kommen mit 154.000 Gläubigen einige mehr zur Kirche als vor Jahren. In Grossbritannien besuchen insgesamt etwa sieben Prozent der Bevölkerung regelmässig den Gottesdienst.

Unkonventionelles boomt

Der baptistische Evangelist Dennis Pethers, Leiter der Viz-A-Viz Ministries, erklärt die Stabilisierung damit, dass sich Gemeinden vermehrt um die Menschen kümmern und junge Briten unkonventionelle Angebote nutzen, etwa des Cafechurch Coffeehouse-Netzwerks. «Kirche ist nicht ein Ort, wohin Leute kommen, sondern eine Gemeinschaft, zu der sie gehören», sagte Pethers. «Und dass muss nicht unbedingt am Sonntag passieren.» Hauskirchen und jährliche Grossveranstaltungen wie deas Greenbelt Musikfestival dürften zur Stabilisierung beigetragen haben. Den Alpha-Kurs aus der anglikanischen Gemeinde im Londoner Stadtteil Brompton haben schätzungsweise 1,2 Millionen Briten kennengelernt. Dass die Kirche mit Jugendlichen auf der Schattenseite des Lebens grösste Mühe bekundet, betont anderseits Krish Kandiah von der britischen Evangelischen Allianz.
 

Datum: 16.11.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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