Ernüchterung und Übergang
Nach 12 Jahren gibt Thomas Wipf den Ratsvorsitz des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK ab. An die Stelle des Zürchers tritt an Neujahr Gottfried Locher. Mit den Stimmen der Welschen gewann der reformatorische Theologe aus Bern im dritten Wahlgang gegen den liberalen Luzerner Kirchenpräsidenten David A. Weiss, den kleinere Deutschschweizer Kirchen favorisiert hatten.
Selbständig denkende Reformierte
Unter Wipf hat der SEK mit den Mitgliedkirchen Positionen zu Taufe, Abendmahl und Ordination erarbeitet. Allerdings haben Taufen und der Gottesdienstbesuch weiter abgenommen. «Das reformierte Erbe», sagte Wipf am Ende seiner zwölf Amtsjahre der Reformierten Presse, «passt in die heutige Zeit, nimmt den Menschen die Angst vor der Zukunft, auch wenn sie mit Risiken behaftet ist, und ermutigt sie zu selbständigem Denken.» Die Kirche brauche es weiterhin «als Ort der Gemeinschaft, des Erinnerns und Vergegenwärtigens des Glaubens und seiner Weitergabe».
Kirche ohne Profil
«Unleserlich» sei das Profil der Kirche geworden, bedauerte der Nachfolger Gottfried Locher in einem vorweihnächtlichen Interview. Er bemängelte die Qualität vieler Gottesdienste. Die Kirche müsse «klarer kirchlich reden», als dies in den letzten fünfzig Jahren geschehen sei. Die Schärfung des Profils müsse im Gottesdienst erfolgen, betonte Locher; er sei «der Kraftort des Christentums». In der Verkündigung, im Abendmahl und im gemeinsamen Gebet beginne auch das Engagement des Christen in Politik und Gesellschaft.
Reformiert sein …
Auf Locher und den auf weiteren vier Posten erneuerten SEK-Rat warten vielschichtige Herausforderungen, strukturell wie thematisch. Der Kirchenbund will seine Verfassung aus dem Jahr 1950 ganz revidieren, zögert dabei aber auch deswegen, weil das Miteinander der sehr unterschiedlichen kantonalen Kirchen im SEK nicht leicht zu moderieren ist.
… und bekennen?
Können die Reformierten wieder klarer – und miteinander – sagen, was sie glauben? Zum «Werkbuch Bekenntnis», das eine Arbeitsgruppe erarbeitet hatte, führt der Kirchenbund derzeit eine Vernehmlassung in den Kirchgemeinden des Landes durch. Im 19. Jahrhundert hoben die Schweizer Landeskirchen den Bekenntniszwang auf und gingen zur Bekenntnisfreiheit über; diese hat, so der Zürcher Kirchenratspräsidenten Ruedi Reich, faktisch zur Bekenntnislosigkeit geführt. Die Arbeitsgruppe träumt davon, dass die Schweizer Reformierten beim Jubiläum 2019 (500 Jahre nach dem Amtsantritt Zwinglis am Grossmünster) im Gottesdienst gemeinsam ein Bekenntnis sprechen können.
Anstoss zur Zukunftsdebatte
Mit der vom SEK bestellten Studie «Die Zukunft der Reformierten» Lausanner Religionssoziologen Jörg Stolz sind die Fragen um die Zukunft der Reformierten unabweisbar geworden. Stolz und seine Mitautorin Edmée Ballif werfen einen nüchternen Blick auf die Zustände: Die gesellschaftlichen Megatrends (von vielen Reformierten bisher bejaht) wirken auf die Kirchen ein, stellen sie zunehmend im Kern in Frage. Die Reaktionen von einzelnen Kirchen werden besprochen, namentlich Massnahmen zur Stärkung von reformierter Identität, Mitgliedschaft, Pfarrberuf, Gottesdienst und Diakonie. Die Verfasser empfehlen den schrumpfenden Landeskirchen, «vermehrt erfolgreiche Strategien aus anderen Gemeinden und Landeskirchen zu übernehmen» sowie «kohärente Gesamtstrategien» zu entwickeln.
Das grosse Fest
Am 13. Juni fand im Stade de Suisse in Bern der Christustag mit 25.000 Teilnehmenden statt. Der Kirchenbund trug die Grossveranstaltung mit; eine reformierte Pfarrerin und mehrere Pfarrer sprachen zu den Versammelten. Programmleiter Hanspeter Nüesch bilanziert ein wachsendes «Bewusstsein, dass das Missionsfeld vor unserer Haustüre ist». Das evangelische Fest habe einen christlich-einladenden Lebensstil gefördert und die Christen über den Röstigraben hinweg verbunden.
Theologenausbildung im Argen
An der Universität Lausanne steht evangelische Theologie im scharfen Gegenwind von Religionsphilosophie und -wissenschaften; in diesem Zusammenhang fand auch der Rücktritt des Waadtländer Religionstheologen Shafique Keshavjee von seiner Professur in Genf ein starkes Echo. In der Deutschschweiz legt das Konkordat der Landeskirchen Absolventen der STH Basel erneut grosse, spitze Steine in den Weg – als sollten die Impulse bibelorientierter Theologie abgeblockt werden. Und dies in einer Zeit, da ein gravierender Pfarrermangel sich abzeichnet…
Spare, wer muss …
Der Zürcher Kirchenratspräsident Ruedi Reich ist wegen einer schweren Krankheit auf Ende Jahr zurückgetreten. Die Kirche Zwinglis erhält weniger Beiträge vom Staat, entsprechend dem gesunkenen Bevölkerungsanteil der Reformierten (noch 35%). Doch dem Sparkurs des Kirchenrats, der diesen Realitäten Rechnung zu tragen versucht, mochte die Synode nicht folgen. Sie verschob im November die im Sommer verordneten Lohnkürzungen auf 2012. Mit seinem Protest hatte der Pfarrverein Anfang Jahr die Einstufung der Spezialpfarrer mit den Gemeindepfarrern (Wohnpflicht ab 50%-Pensum) in dieselbe Lohnklasse erwirkt; der Kirchenrat hatte die Gemeindeseelsorger angesichts ihres ganzheitlichen Einsatzes und höherer Präsenz besser entlöhnen wollen (ihnen bleibt eine zusätzliche Woche Ferien).
Eine gute Fahrstunde von der Limmatstadt entfernt bemüht sich die reformierte Kirche im Kanton Neuenburg, ihren Betrieb bei dramatischen schwindenden Finanzen aufrechtzuerhalten. Weil der Tabakkonzern Philip Morris auf den bisherigen Beitrag verzichtete, stand die seit langem gebeutelte Kirche im Advent mit abgesägten Hosen da. Im Jurakanton sind Staat und Kirche getrennt; sie finanziert sich durch freiwillige Beiträge. Landesweit unterstützen die Kantonalkirchen einander begrenzt; von einem Finanzausgleich, wie ihn die Eidgenossenschaft kennt, ist nicht die Rede.
Nach dem Minarettverbot
Die reformierten Kirchenleitungen und der Kirchenbund hatten sich 2009 vergeblich gegen das Minarettverbot ausgesprochen. Die grossen Landeskirchen Bern und Zürich haben nach der Annahme der Initiative an ihrem auf Verständigung gerichteten Kurs festgehalten: Die grösste Landeskirche verankerte den Dialog der Religionen in der Kirchenordnung.
Der Zürcher Kirchenrat legte im Sommer ein 38-seitiges Positionspapier «Kirche und Islam» vor. Danach soll der interreligiöse Dialog intensiviert werden, um den «zunehmenden, gegenseitigen Ressentiments», der «Entfremdung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen» zu wehren. Die hier lebenden Muslime könnten zwar nicht für die Verhältnisse in ihren Herkunftsländern verantwortlich gemacht werden, doch sei mit ihnen «offen über die Verfolgung von Christen in islamischen Ländern» zu sprechen. Statt von Islamisierung redet die Zürcher Kirchenleitung von einer «verstärkten Hinwendung zu traditionalistischen Formen der religiösen Praxis bei gleichzeitiger Nutzung modernster Kommunikationsmittel».
Christlicher Glaube als Stückwerk
In einem kurzen Absatz hält der Kirchenrat fest, «dass wir als Christen auch Muslimen gegenüber die Wahrheit des Evangeliums von Jesus Christus bezeugen». Beim Bekennen des Glaubens müsse berücksichtigt werden, «dass all unser Denken und Glauben seine Grenzen hat» – auch das christliche Glauben sei Stückwerk (Zitat aus 1. Korinther 13). Insgesamt geht es der Kirchenleitung vorrangig um ein Gespräch, das «Gemeinsamkeiten und Differenzen der beiden Religionen» sucht und benennt und die «innere Bezogenheit» von Judentum, Christentum und Islam bedenkt.
Datum: 31.12.2010
Quelle: Livenet.ch