Heilung nach dem Unvorstellbaren
Erin Nelson gründete das Trauerzentrum «Jessica’s House», das Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und ihre Eltern nach dem Verlust eines Elternteils oder Geschwisters begleitet. «Ich lebe mit meinem Mann Brian im Central Valley von Kalifornien. Wir haben vier Kinder – drei leben bei uns, eines erwartet uns im Himmel – und ich bin Grossmutter von zehn Enkelkindern.»
«Es gab keine Überlebenden»
1995 war Erin Nelson eine junge Mutter von zwei Kindern, die fünf und drei Jahre alt waren. «Mein Mann Tyler war Mandelbauer und -verarbeiter, und wir standen am Anfang unseres Familienunternehmens, als er mit Freunden zum Angeln nach Alaska reisen wollte.»
Sie war gerade bei ihren Schwiegereltern zu Besuch, als sie um drei Uhr morgens ein Anruf aus dem Schlaf riss. Tylers Bruder Gary sagte ihr, dass Tylers Flugzeug in eine Kollision in der Luft verwickelt war und es keine Überlebenden gegeben habe.
Die Worte «keine Überlebenden» gingen ihr immer wieder durch den Kopf, während sie ihre Kinder aus dem Bett hob. «Ich trug meinen dreijährigen Sohn Cody die Treppe hinunter, hinaus in die kalte Nachtluft, schnallte ihn in seinen Kindersitz und fuhr nach Hause. Ich erinnere mich, wie ich auf dieser Fahrt den Sonnenaufgang über den Feldern von Monterey sah und dachte: ‘Wie können all diese Menschen einfach weiterfahren, obwohl etwas so Schreckliches passiert ist? Gleichzeitig spürte ich eine warme, tröstliche Gegenwart; eine, die ich zuvor nie gekannt hatte.»
Eine Tragödie nach der anderen
Nur wenige Monate später starb ihre Mutter durch Suizid. «Sie litt an einer bipolaren Störung. Es war eine der dunkelsten Zeiten meines Lebens. Ich fühlte eine Zerbrechlichkeit in mir, die kaum auszuhalten war.»
Sie versuchte, die Erinnerungen an ihre Mutter lebendig zu halten, «wie sie eine Spinne in einem Taschentuch einfing und nach draussen brachte, ihre Sanftheit, ihren Humor».
Erins 15-jährige Schwester zog nun bei ihr ein. «In dieser Zeit begann ich erstmals wahrzunehmen, wie Kinder und Jugendliche Trauer verarbeiten.»
Noch ein tiefgreifender Verlust
Mit der Zeit lernte sie einen Mann in ihrer Kirche kennen. «Wir arbeiteten gemeinsam mit Jugendlichen, heirateten und bekamen zwei weitere Kinder. Unser erstes gemeinsames Kind – Carter – war für mich ein Licht nach langer Dunkelheit. Er liebte Autos, Musik und leitete den Lobpreis in unserer Gemeinde.»
Als Carter 20 Jahre alt war, weckte ihr Mann sie mitten in der Nacht: Carter hatte einen Unfall gehabt. «Auf der Fahrt ins Krankenhaus betete ich ununterbrochen. Ich hatte damals schon zehn Jahre lang trauernde Familien begleitet – und vielleicht hoffte ich, wir würden von einem weiteren Verlust verschont bleiben. Doch an diesem Tag erfuhren wir: Seine Verletzungen waren nicht zu überleben. Wir versammelten uns als Familie, um uns zu verabschieden.»
Am Abgrund der Trauer
Sie fragte sich, ob Gott sie überhaupt sieht. «Ich hatte so oft für den Schutz meiner Kinder gebetet und stand nun vor einem Abgrund der Trauer. In dieser Dunkelheit erlebte ich eine Liebe, die so tief war, dass sie trotz allem schön war. Ich spürte, dass Gott mich auch dort umgab.»
Erin Nelson erinnert sich: «Gott verstand, dass ich ihn in diesem Moment nicht verstand. Er liess mich wissen: ‘Dein Glaube kam immer von mir. Ich war immer bei dir. Es ist in Ordnung, wenn du mir gerade nicht vertraust, ich bin trotzdem hier.’ Nach und nach formte sich mein Glaube neu und er war lebendiger als je zuvor.»
Trauerbegleitung gegründet
Der Verlust eines Elternteils oder Geschwisters kann für ein Kind schwerwiegende Folgen haben; auch körperlich und emotional. «Die gute Nachricht: Es gibt das Konzept des posttraumatischen Wachstums. Wie ein junger Baum, der durch Sonne, Wasser und andere Wurzeln gestützt wird, können Kinder mit Hilfe von Kunst, Musik und Spiel Wege finden, ihre Trauer auszudrücken und gestärkt aus ihr hervorgehen.»
Diese Erkenntnis liess in ihr den Wunsch wachsen, anderen trauernden Kindern und Familien in ihrer Region zu helfen. «Zuerst begann ich mit der Trauerbegleitung in meiner Kirche. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründete ich das ‘Jessica’s House’. Jessica war ein Mädchen aus unserer Gemeinde, das an Leukämie erkrankt war. Vor ihrem Tod half sie anderen: Durch den Verkauf ihrer Kunstwerke sammelte sie Geld für Familien, die sie im Krankenhaus kennengelernt hatte. Nach ihrem Tod – unsere ältesten Kinder waren mit ihr befreundet – war klar: Diese Einrichtung sollte ‘Jessica’s House’ heissen.»
«Care»: Anderen helfen
«Seit 13 Jahren begleiten wir nun trauernde Kinder und Jugendliche», berichtet Erin Nelson. «Viele der Kinder, die 2012 zu uns kamen, studieren heute soziale Berufe. Eine junge Frau aus unserem ersten Jahrgang sagte kürzlich zu mir: ‘Ich komme bald und übernehme deinen Job.’ Ich hoffe, sie tut es wirklich.»
Erin Nelson erklärt ihr Leitprinzip in der Trauerbewältigung, das «CARE» (dt. Fürsorge) heisst:
«C = Care for your body (dt. Kümmere dich um deinen Körper): Ernähre dich gesund, trinke Wasser, bewege dich draussen, an der frischen Luft.
A = Accept support (dt. Nimm Hilfe an): Nimm Hilfe an, heute und in Zukunft.
R = Rest often (dt. Ruhe dich oft aus): Gönn dir Pausen und halte an stabilen Routinen fest.
E = Express emotions (dt. Drück Emotionen aus): Sprich aus, was du fühlst – so, wie du es fühlst.
Denn eines haben wir gelernt: Wenn du dem Prozess des Trauerns ausweichst, verpasst du oft die Tiefe der Heilung, die Gott für dich bereithält.»
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Datum: 04.08.2025
Autor:
Jesus Calling / Daniel Gerber
Quelle:
Jesus Calling / gekürzte Übersetzung: Jesus.ch