Talk mit Hardmeier und Baumberger

Sonst könnten wir ans Spaghetti-Monster glauben

Roland Hardmeier und Evelyne Baumberger im Gespräch
Sie sind eine Realität auch im bisher «frommen» Bereich: «Progressive Evangelikale» stellen vieles in Frage, was bisher zum evangelikalen Glauben gehörte. Damit beide Gruppen mehr miteinander reden, will Livenet eine Plattform bieten.

Am Anfang sind sich beide Gesprächspartner fast beängstigend einig: beide beschäftigen sich gern mit der Bibel, beide möchten glaubensferne Menschen erreichen und beide finden, man sollte mehr miteinander reden. Schuld am «Unter-sich-Bleiben» sind nach Evelyne Baumberger nicht zuletzt die sozialen Medien, deren Algorithmen uns zu den Inhalten führen, die uns bestätigen.

Ist die Kirche wichtig?

Evelyne bezeichnet sich als «post-institutionelle Christin», das RefLab ist keine Kirche, sondern ein «Lagerfeuer». Man wolle Menschen nicht unbedingt «in die Kirche bringen». Das triggert Roland Hardmeier. Gottesdienst und Gemeinde gehören für ihn zum Grundbestand des Glaubens: «Was 2000 Jahre Christenverfolgung nicht geschafft haben, schafft die Digitalisierung heute locker (verstärkt durch Corona): den Rückzug in die eigene gläubige Privatsphäre». Dem müsse man neu eine «Kultur der Gemeinschaft» entgegensetzen.

Wir nehmen das gleiche Buch in die Hand

Das Bibelverständnis ist wohl die wichtigste – und grundlegende – Unterscheidung zwischen den beiden Positionen, stellt Flo Wüthrich fest. Evelyne – mit pietistischem Hintergrund – tritt vor allem als «Forscherin» an die Bibel heran, erlebt aber selbst beim Bibellesen durchaus auch «Berührung» mit Gott. Für Roland (obwohl auch er gern forscht) ist die Basis: «Ich lasse mich ansprechen». Wichtig ist ihm «nicht zuerst das Sezieren oder das Wissen, sondern Gottes Reden. Gott redet nirgends kräftiger als in der Heiligen Schrift». Sein neues Buch, das bald erscheinen wird, beschäftigt sich mit der Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte.

Wenn es um Spannungen geht – exemplarisch werden kurz die «zwei Schöpfungsberichte» angesprochen – sieht Evelyne eher «verschiedene Traditionen» in der Auslegung, während bei Roland bei offenen Fragen sein «Grundvertrauen zu Gottes Wort» zum Tragen kommt: «Wenn ich eine Frage nicht lösen kann, lasse ich sie offen, damit kann ich leben». Für ihn ist die Bibel – und in diese Richtung hätten sich die meisten Evangelikalen entwickelt – nicht «irrtumslos, aber unfehlbar». «Klar, die Bibel ist unter Inspiration von Menschen geschrieben worden. Aber sie macht uns unfehlbar mit dem Willen Gottes bekannt».

Beissender Zweifel

Roland kritisiert, dass im «evangelischen Mainstream» nach 200 Jahren Aufklärung, liberaler Theologie und historisch-kritischer Forschung weithin «beissender Zweifel» an der Unfehlbarkeit der Bibel herrscht – eine Feststellung, die Evelyne mit «es gibt innerhalb der Landeskirche verschiedene Strömungen» deutlich abschwächt. Für Roland werden hier zentrale Glaubensbestände aufgegeben, viele Pfarrer könnten die Glaubensbekenntnisse nicht mehr beten, leere Kirchen seien die Folge.

Das Kreuz

Auf die Frage «Was bedeutet das Kreuz für euch?» erklärt Roland, dass es für ihn das Zentrum des christlichen Glaubens ist. Und obwohl es in der Bibel selbst verschiedene Deutungen des Kreuzestodes Jesu gibt, ist der Gedanke des «stellvertretenden Sühneopfers» (sacrifice) für ihn zentral, weil dies von Jesaja über Johannes bis zu Paulus immer wieder betont wird.

Für Evelyne ist Jesus «aus Liebe ans Kreuz gegangen», aber das Entscheidende sei das leere Kreuz: «Gott gibt dir eine neue Chance». Der Gedanke der Sühne ist für sie eine «jüdische Deutung» und ihr relativ fremd: «Ich hatte immer Mühe, mich als Sünderin zu fühlen.» Die Sühne würde zu individualistisch verstanden, dabei habe Gott doch «alle versöhnt in Jesus». Der Gedanke der Sünde sei dennoch wichtig, «weil wir alle Fehler machen» und für viele ein «hoher Perfektionsdruck» herrsche.

Was kann man voneinander lernen?

Auf die Frage, was beide Seiten voneinander lernen könnten, betont Roland die «Weltzugewandtheit» der Progressiven, die sich z.B. in sozialem Engagement äussert – ein Bereich, in dem allerdings auch die Evangelikalen in den letzten Jahrzehnten deutliche Fortschritte gemacht haben.

Für Evelyne ist bei den Evangelikalen wichtig, dass der Glaube ein Lebensstil ist und im Alltag gelebt wird. Bibellesen, Gemeinschaft usw. sind «Lichtfunken»: in der Landeskirche wisse man oft gar nicht, wie man im Alltag Glauben lebt. Sie sieht aber in mystischen und liturgischen Ansätzen neue Hoffnung.

Schlussfrage des Moderators: «Muss diese ganze Diskussion sein? Kann man nicht wie an der EXPLO einfach fröhlich weitermachen?» Roland betont hier, dass Glaube immer angefochtener Glaube sei; man müsse sich zusammensetzen und über Inhalte offen reden: «Wichtig ist nicht nur, dass mich irgendetwas erfüllt, sonst könnte ich an das Spaghetti-Monster glauben.» Er ist überzeugt: «Wo man sich zusammen- und auseinandersetzt, da lebt der Glaube.»

Livenet wird weitere Gespräche zwischen klassischen und progressiven Evangelikalen ermöglichen.  

Zum Talk:

Zum Thema:
Dossier: Livenet-Talk
Talk mit Paul Bruderer: Weltanschauung, Zweifel und Progressive 
Das Evangelium neu umarmen: Verständlich vom Glauben reden 

Datum: 05.09.2025
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

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