Die Zahl der Sandkörner in ihr bleibt ungezählt, und doch werden die einzelnen Körnchen sichtbar, wie sie nacheinander fallen. Gern würde man mal ein einzelnes Sandkorn farbig markieren, um es zu verfolgen. Aber so ist es mit der Zeit. Sie läßt sich nicht festhalten, auch wenn wir sie einteilen in Sekunden, Minuten, Stunden und Tage. Wir können besondere Tage im Kalender rot markieren, aber sie verfließen genau so schnell wie alle anderen Tage. Nein, sagt sie, sorge dich nicht, auch wenn du dein Leben nicht einfach noch mal wiederholen kannst. Steh vielmehr zu deiner eigenen Hinfälligkeit und vertrau darauf, daß alles von Gott umfangen ist - Leben und Sterben - und alles in ihm aufgehoben bleibt. Und dann raunt sie mir das alte Gedicht zu, das vom Fallen redet - ein Fallen, das sich ständig auch im Innern der Sanduhr vollzieht: Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andere an: es ist in allen. Und doch ist Einer, der dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.
Die Sanduhr hat etwas Unerbittliches in ihrem gleichförmigen Flüstern. Kein Wunder, wenn es in der Bibel heißt: Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn. Wir bringen unsere Tage zu wie ein Geschwätz. Müßte man nicht jeden Tag so leben, als wäre es der letzte? Aber geht das? Gehören aber nicht zu unserem Leben auch die völlig belanglosen Tage und das tägliche Einerlei? Meine Lebenszeit läuft ab, jeden Tag. Nichts kann ich festhalten.
"Sorge dich nicht!" Flüstert mir die Sanduhr zu und ich denke: Du hast gut reden! Wenn du abgelaufen bist, dann brauchst du dich nur umzudrehen und dein Leben fängt noch mal von vorne an. So einfach ist das bei uns Menschen nicht. Oder sollte das mit der Auferstehung zum Ewigen Leben gemeint sein?
Datum: 22.10.2002
Autor: Holger Treutmann
Quelle: Kirche Chemnitz