Die Spinne antwortete sanft: "Ich weiß, daß ich spinne, und weiß auch, daß du fliegst. Doch was dir an mir sinnlos und langweilig erscheint, ist der Zweck meines Daseins. Und was du jetzt noch als Unsinn belächelst, könnte leichtfädig und rasch deinem eigenen Sinn ein Ende bereiten. Gib acht, daß du dich nicht in deinem Urteil verfängst." Wir sind immer wieder versucht, uns mit andern zu vergleichen, uns an andern zu messen. Wir machen die Bedeutung unseres Daseins und unseres Soseins, unseren Selbstwert gerne am Vergleich mit andern fest: Manche Menschen fühlen sich gross, wenn sie sich besser, bedeutender und erfolgreicher wähnen als ihre Mitmenschen. Andere fühlen sich klein und beneiden insgeheim die Menschen in ihrem Umfeld, weil sie es ihrer Meinung nach besser haben als sie selbst. Sie alle vergessen dabei ihre Einmaligkeit und Einzigartigkeit: Denn so wie ich jetzt gerade denke und fühle, rede oder zuhöre, auf andere zugehe oder mich abwende, ihnen zulächle, mich freue oder ärgere – das bin ich, einmalig, unverwechselbar! „Ich, das ist mehr als sich von anderen zu unterscheiden, mehr als der bewusste Personkern, mehr als das Ergebnis meiner Lebensgeschichte. Das Ich heisst: Ich bin von Gott bei meinem Namen gerufen, mit einem unverwechselbaren Namen. Ich bin ein Wort, das Gott nur in mir spricht. Mein Wesen besteht nicht in meiner Leistung, nicht in meinem Wissen, auch nicht in meinem Fühlen, sondern in dem Wort, das Gott nur in mir spricht und das nur in mir und durch mich in dieser Welt vernehmbar werden kann. Sich selbst begegnen heisst daher, eine Ahnung von diesem einmaligen Wort Gottes in mir zu bekommen. Gott hat schon durch meine Existenz gesprochen, er hat sein Wort in mir gesagt. Beten als Selbstbegegnung heisst, in seinem innersten Geheimnis Gott begegnen, der mich in mir selbst angesprochen und sich in mir ausgesprochen hat.“ (Anselm Grün)
(aus: Werner Reiser, Kurznachrufe und andere Kurzwaren)
Datum: 05.09.2005
Autor: Roman Angst
Quelle: Bahnhofkirche Zürich