Kanada und die Polygamie
Anlass zum Verfahren gibt eine mormonische Splittergruppe, deren Leiter wegen Vielehe angeklagt wurden. Die «Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter-day Saints» (FLDS) hat die Vielweiberei der frühen Mormonenbewegung trotz dem Verbot in den USA und Kanada 1890 festgehalten.
Über 1000 Anhänger der Splittergruppe leben in der Kolonie Bountiful bei Cranbrook im Südosten von British Columbia. Winston Blackmore, bis zu seinem Ausschluss 2002 der einzige Anführer in Bountiful, hat 25 Frauen geheiratet und 121 Kinder gezeugt. Im Januar 2009 wurde er verhaftet und später wie sein Rivale und Nachfolger James Oler wegen Polygamie angeklagt. Der oberste Führer der FLDS, Warren Jeffs, der Blackmore exkommunizierte, hat im mormonischen Herzland Utah im Gefängnis gesessen. Er muss sich vor einem Gericht in Texas wegen Bigamie und sexuellen Übergriffen verantworten.
Entscheid gefordert
Die Praktiken in Bountiful fordern vom Staat, der dem Treiben jahrzehntelang zusah, einen Entscheid: Entweder hebt er das Verbot der Polygamie auf – oder er greift durch. Dabei sind verschiedene Grundrechte, die im auf Liberalität bedachten, pluralistischen Einwanderungsland hochgehalten werden, gegeneinander abzuwägen. Das Gerichtsurteil könnte für das Parlament in Ottawa wegweisend sein.
Im Verfahren, das am 22. November begann und sich in den Januar erstrecken wird, treten Anwälte verschiedener Verbände auf. Für die FLDS sprach Robert Wickett und betonte, arrangierte Ehen und patriarchale Herrschaft könnten nicht Gegenstand der Beratung sein. Die Bewegung wolle die Aufhebung des Polygamie-Verbots erreichen. Für die FLDS-Polygamisten bestimmt Gott den Ehepartner und der Anführer (Prophet) der Gemeinschaft teilt die im Himmel getroffene Entscheidung mit.
Junge Männer ohne Chance
Die christliche Juristenvereinigung CLF trat mit zwei Vertretern für die Beibehaltung des Polygamieverbots ein. Der Religionswissenschaftler Timothy Dunfield hat das Schicksal der sogenannten «Lost Boys» der FLDS untersucht. Nach Schätzungen haben über 1000 junge Männer, die vom Propheten als nicht ehewürdig befunden wurden, die Gemeinschaft in der Folge verlassen. Der Prophet bestimme, wer heiraten dürfe, und weise die Partner einander zu.
Laut Kritikern und Aussteigern haben jene Männer, die dem FLDS-Propheten am nächsten stehen, die meisten und die jüngsten Frauen erhalten – was sie nach mormonischer Meinung in der himmlischen Hierarchie aufsteigen lässt. Dunfield hielt fest, dass polygame Gemeinschaften sich überschüssiger Burschen entledigen müssten, um genügend Frauen zu haben, und schilderte das Elend dieser Männer.
Frauen haben das Nachsehen
Für die CLF sprach auch die in San Diego lehrende Familien-Ökonomin Shoshana Grossbard. Sie hat die wirtschaftlichen Prozesse in polygamen Gemeinschaften auf verschiedenen Kontinenten erforscht. Laut Grossbard verschärft Polygamie den Wettbewerb der Männer um Frauen. Die Männer schaffen Institutionen, die den Spielraum der Frauen einengen und sie kontrollieren; es kommt vermehrt zu arrangierten Ehen und Ehen mit Mädchen. Der Altersunterschied zwischen Mann und Frau ist deutlich grösser als in monogamen Gesellschaften; dies hat auch längere Witwenzeiten zur Folge. Grossbard hielt fest, dass mit Polygamie weltweit «unerwünschte wirtschaftliche, gesellschaftliche, physische und emotionale Faktoren» für die betroffenen Frauen verbunden sind. Sie würden «eher wie Waren behandelt» und hätten weniger Freiheit.
Unkritische Expertin
Anders als Dunfield und Grossbard ging Angela Campbell, eine Rechtsprofessorin aus Montreal, vor. Sie befragte 2008 und 2009 insgesamt 22 FLDS-Frauen – und stellte nur Zufriedenheit fest. Die Frauen könnten ihre Ehepartner bestimmen, auch den Zeitpunkt der Heirat, und sie könnten über die Zahl der Kinder entscheiden, sagte Angela Campbell dem Gericht. Ohne bei Ex-Mitgliedern nachzufragen, schloss Campbell aus den Interviews, dass Polygamie in Kanada entkriminalisiert werden sollte. Solange die Frauen Strafverfolgung und den Verlust des Sorgerechts für ihre Kinder befürchteten, scheuten sie sich, Vergehen anzuzeigen oder bei staatlichen Stellen Hilfe zu suchen.
Seelisch geknickt
Das exakte Gegenteil legte der Psychologe Larry Beall aus Salt Lake City dem Vorsitzenden Richter Robert Bauman dar. Beall hat 41 Personen therapiert, die in fundamentalistischen Mormonenkreisen missbraucht und seelisch geknickt wurden. Laut Beall ist eigenständiges Denken in den sektenartigen Gemeinschaften unerwünscht und die Privatsphäre eng begrenzt. Von den Frauen erwarteten die Führer, dass sie sich einordneten und fügten.
In Kanada existiert auch eine Vereinigung, die Partnerschaften und Sex in allen Formen befürwortet, die «Canadian Polyamory Advocacy Association». Ihr Sprecher John Ince wandte sich gegen die «traditionelle, patriarchale Polygamie», in der Frauen unterdrückt würden und allein Männer sich mehrere Partner nehmen könnten. Allerdings wünschte sich auch Ince ein Gesetz, das Praktiken wie in Bountiful unter Strafe stellt.
Staat und Privatsphäre
Der Generalstaatsanwalt von British Columbia hatte mit der Äusserung für Verwunderung gesorgt, dass das geltende Gesetz (angesichts der Mormoneneinwanderung 1890 verabschiedet) nur für Männer mit mehreren Frauen gelte, nicht aber für Frauen oder Schwule mit mehreren männlichen Partnern. Insgesamt stellt sich die Frage, wie weit ein säkularer Staat, der grundsätzlich keine sittlichen Vorstellungen mehr durchsetzen will, im Namen von Freiheit und Gleichheit in die Privatsphäre seiner Bürger eingreifen soll.
Polygamie schützenswert?
Für Daphne Bramham, die Kolumnistin der Vancouver Sun, die über die Kinderbräute und Lost Boys der FLDS ein Buch geschrieben hat, ergaben sich im Laufe der ersten Hearings mehr und mehr Fragen, namentlich: «Gibt es eine gute Polygamie und eine schlechte? Ist Polygamie in irgendeiner Form etwas, das nach Meinung der Kanadier durch die Verfassung geschützt werden sollte?»
Fällt der Entscheid zugunsten der Polygamisten aus und folgt das Parlament dem Gericht, wäre Kanada das erste westliche Land, das die Mehr-Ehe freigibt, was auch traditionalistischen Muslimen entgegen käme.
Datum: 09.12.2010
Quelle: Livenet / Vancouver Sun, CBC, CLF