Wir können hier im grossen und ganzen dieselbe Linie verfolgen wie bei der alttestamentlichen Kritik. Wir sehen neben der Reformation den Humanismus aufkommen, der die Autonomie des Menschen betont (der Mensch und nicht Gott im Mittelpunkt allen Geschehens). Diese Richtung verkehrt die göttliche Offenbarung und will die Bücher der Bibel als menschliche Literatur erklären, und das am liebsten im Zusammenhang mit heidnischen Kulturen und religiösen Riten. So sucht man für das Neue Testament Parallelen in der jüdischen (J. Lightfoot, um 1670) oder klassischen Literatur (H. de Groot, um 1645) oder in beidem (J. J. Wettstein, 1652). Dieses Vorgehen kann zu nichts anderem als zur Kritik am biblischen Kanon führen: So hatte beispielsweise Hugo de Groot Einwände gegen 2. Petrus und 2. Johannes. Dieselbe Tendenz erkennen wir anschliessend vor allem beim (englischen) Deismus. So unterscheidet zum Beispiel J. Locke (1695) zwischen der wesentlichen Lehre Jesu und der nichtwesentlichen Lehre (Formgebung) der Briefe der Apostel. Andere lehrten, dass Jesus nur ein einfacher Moralprediger war, dem es nur um seine Lehre ging; während die späteren Evangelien eine Theologie aufgebaut hätten, die mehr seine Person als seine Lehre betone. Im 18. Jahrhundert erreichte diese Theorie (Periode der Aufklärung oder Erleuchtung), bei der der menschliche Verstand (Vernunft) über das Wort Gottes gestellt wurde, von England ausgehend Deutschland. Von grossem Einfluss waren die Ansichten H. S. Reimarus' (1778), der die Möglichkeit biblischer Wunder leugnete, Jesus einen idealistischen Juden ohne Zukunftschancen nannte und die Jünger als unmoralisch einstufte, weil sie Jesu Leichnam gestohlen hätten, um für ihre Sache die Auferstehung predigen zu können! Genauso radikal und einflussreich war J. S. Seniler (1775), der wohl die essentiellen Teile der christlichen Religion gelten lassen wollte, aber zudem einen Unterschied zwischen dem göttlichen Inhalt ("Wort von Gott") und der menschlichen Form (die Schrift) machte; so konnte auch er ganze Teile des Kanons für "unecht" erklären. Der dritte tonangebende Theologe jener Tage war J. Ph. Gabler (1787), der in die historische Kritik den Begriff "Mythos" einführte, eine Geschichte also, worin der Mensch mit Hilfe von Elementen und Symbolen aus der sichtbaren Wirklichkeit seinen Glauben an eine höhere Wirklichkeit wiedergibt (so sei es auch mit der "Urgeschichte", vgl. 1. Mose 1-3, gewesen). G. L. Bauer (1800) erarbeitete diese Theorie für das Neue Testament. So sehen wir auch hier nicht in erster Linie die Frucht objektiv-wissenschaftlicher Arbeit, sondern eine bestimmte Art philosophischen Denkens, bei der man von vornherein davon ausgeht, dass es keine göttliche Offenbarung gibt oder geben kann. Auch im 19. Jahrhundert sehen wir den engen Zusammenhang mit der Philosophie. So wurde beispielsweise J. G. Eichhorn (1812) ausser von Semler und Gabler vor allem von Herders Romantik beeinflusst. Er erklärte die Pastoralbriefe für "unecht" (d.h. nicht von Paulus, sondern erst später geschrieben) und meinte auch in den Büchern zwischen ursprünglichen Teilen und späteren Hinzufügungen unterscheiden zu können. W. M. L. de Wette arbeitete unter demselben Einfluss; er bezweifelte die Echtheit von 2. Thessalonicher und Epheser. Daneben sehen wir den Einfluss von Hegels Idealismus und Dialektik, vor allem in der "Neuen Tübinger Schule" von F. C. Baur (1873). Dieser ging von Semlers Meinung über eine Antihaltung zwischen Juden- und Heidenchristen in der ersten Gemeinde aus und wandte darauf Hegels dialektische Idee der "Evolution der Geschichte" an: Durch Gegenüberstellung von These (jüdisches Christentum, z.B. das Buch der Offenbarung) und Antithese (das Heidenchristentum) sei es zur Synthese (das katholische Christentum, vgl. Apostelgeschichte) gekommen. Von dieser Skizze ausgehend meinte er dann, bestimmen zu können, welche Teile der Paulusbriefe "echt" waren und welche nicht. Diese Arbeit in der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts, begonnen mit den Briefen, wurde in der zweiten Hälfte mit den Evangelien fortgesetzt, denen nun die Aufmerksamkeit der Kritiker galt.Frühe Geschichte der Kritik am Neuen Testament
Datum: 17.06.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel