Interview

Wenn es in der Ehe Opfer und Täter gibt

Manche Partner befinden sich in einer verhängnisvollen Opferrolle. Dabei gerät der andere Partner in die Täterrolle. Wie so etwas verhindert werden kann, verrät Seelsorgerin und Autorin Nicole Schenderlein.
Eheprobleme

Frau Schenderlein, leider gibt es auch heute noch eheliche Gewalt. Die Dunkelziffer ist gross. Über Gewalt in den eigenen vier Wänden spricht auch kaum jemand. Kürzlich verriet mir aber eine Frau, dass sie ihren Mann im Streit geschlagen hat. Wie wirkt sich Gewalt in einer Beziehung aus?
Nicole Schenderlein: Ganz fatal. Der eine ist das Opfer, der andere der Täter. Oder beide werden zu Tätern und rächen sich aneinander. Die Beziehung ist dann vollkommen vergiftet. Das gilt nicht nur für körperliche, sondern auch für seelische Gewalt. Körperlich und seelische Gewalt tötet das Vertrauen und damit auch einen Grundpfeiler der Ehe. Eine gelöste Begegnung ist kaum noch möglich. Das Opfer muss ständig in Habachtstellung sein und weiss gar nicht mehr, wer sie oder er eigentlich ausserhalb dieser Opferrolle ist.

Funktioniert die Sexualität in einer solchen Atmosphäre noch?
Eine gesunde Sexualität ist auf dieser Basis nicht mehr möglich. Sie ist immer mit Macht verbunden oder wird sogar als Machtinstrument missbraucht. Die eigentliche Bedeutung von Sexualität kommt abhanden und wird vollkommen abgetötet.

Ist eine Veränderung möglich?
Nur wenn beide bereit sind, sich ihrer Rollen und Verhaltensmuster zu stellen und sich zu verändern.

Gewisse Menschen begeben sich aus verschiedenen Gründen in eine solche Opferposition, werden dem Partner gegenüber vorwurfsvoll und unzufrieden, ändern aber nichts an der Position.

Weshalb ist das so?
Für die meisten Opfer ist diese Rolle die einzige Identität, die sie kennen. Sie wachsen als Opfer ihrer Eltern auf und suchen sich jemanden, bei dem sie sich in dieser Rolle sicher fühlen - eine trügerische Sicherheit. Weil sich die Opfer mit ihrer Rolle identifizieren, halt sie dieses Beziehungsgefüge für absolut normal und reagieren auch so: «Wieso sollte ich ihn verlassen? Er liebt mich doch.»

Teilweise verändern sich aber auch unabhängige Menschen zu unsicheren Persönlichkeiten.
Ja, wenn ein Partner sich dem anderen - aus realistischen oder unrealistischen Gründen- unterlegen fühlt, kann es sein, dass er den anderen unterdrücken will, um sich selbst gut zu fühlen.

Wie reagieren diese Personen auf die Unterdrückung?
Starke Persönlichkeiten, die in eine solche Situation geraten, haben oft Probleme, sich dieser Realität zu stellen, sodass sie lieber weiter aushalten und das Ganze herunterspielen. Andere wiederum meinen, sie müssten ihre Kinder schützen, weil Kinder nur in einer Ehe gesund aufwachsen können. Das ist aber das Schlimmste, was sie machen können. Die Kinder spüren so was und leiden unter der ungleichen Rollenverteilung der Eltern und der unterschwelligen Aggression oder sogar der offenen Gewalt. Hier ist absoluter Handlungsbedarf angesagt, gerade weil man Verantwortung für die Kinder trägt.

Eine andere Frau, die ich im Urlaub traf, erzählte mir, dass sie lange Zeit von ihrem Mann geschlagen wurde, sich aber nicht trennen wollte aufgrund ihres christlichen Glaubens. Als es nicht mehr auszuhalten war, trennte sie sich trotzdem, was sie nie bereute. Warten Christinnen zu lange?
Leider ja. Christinnen bleiben oft nur deswegen so lange bei ihrem Mann, weil sie von ihrer Gemeinde geächtet werden, wenn sie sich öffnen und von ihren Qualen zu Hause berichten und in der Gemeinde keinerlei Unterstützung erhalten. Zum Druck der Gewalt kommt dann auch noch der soziale und falsch verstandene christliche Druck hinzu. Und das, obwohl sich der Ehemann strafbar macht, sowohl vor dem Gesetz als auch vor Gott.

Dieser Ausschnitt stammt aus dem Buch «Intim, Fachleute im Gespräch über Lust, Leidenschaft und erfüllte Sexualität» von Iris Muhl. Dies ist ein Interview mit der Seelsorgerin und Autorin Nicole Schenderlein aus Deutschland. Das Interview trägt den Titel «Liebe und Vertrauen in Sexualität und Ehe» und behandelt unter anderem die körperliche und seelische Gewalt am Partner. Das Buch «Intim» ist in christlichen Buchhandlungen erhältlich oder direkt beim Bibelpanorama www.bibelpanorama.ch.

Datum: 29.03.2010
Autor: Iris Muhl
Quelle: Livenet.ch

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