Der Erfolg von "The Passion" und die Lancierung weiterer Filme zum Thema Religion könnten den Eindruck erwecken, 2004 sei ein Jahr des religiösen Films gewesen. Dem sei nicht so, meint der Filmkritiker Michael Sennhauser von Schweizer Radio DRS. Aber seit zehn Jahren werde der Religion bei der filmischen Schilderung von kulturellen Zusammenhängen mehr Raum gegeben. Im Film "Just a Kiss", den Ken Loach dieses Jahr in die Kinos brachte, zeigt die schwierige Liebe zwischen einer katholischen Lehrerin und einem muslimischen Pakistaner kurz, aber wuchtig. Die Kirche erscheint in ungünstigem Licht. Nicht besser ergeht es der Kirche im Film "La mala Education" des spanischen Altmeisters Aldomovar. Der Film handelt von einem pädophilen Priester. Michael Sennhauser, Mitglied der Filmredaktion bei Schweizer Radio DRS, meint, in diesen Filmen finde nicht eigentlich eine Religionskritik statt. Vielmehr würden Missstände in der Kirche aufgegriffen. Die Tendenz, die "Vergangenheit der Kirche" aufzuarbeiten, sei nicht neu. So etwa hatte 2002 der Streifen "The Magdalene Sisters" von Peter Mullan Ungerechtigkeiten in einem Frauenkloster zum Thema. Das laufende Jahr hat für Filme mit religiöser Thematik aber doch etwas Neues gebracht. "The Passion", im Frühling in die Kinos gebracht und die Leidensgeschichte Jesu thematisierend, habe den Markt verändert. Denn es sei das an religiösen Filmen interessierte Kinopublikum in Europa entdeckt worden. In den USA habe Hollywood schnell reagiert und den Griff in die Archivbestände getan. Filme wie "Jesus" von Roger Young - 1999 für das Fernsehen produziert - wurden wieder auf den Markt gebracht. In den Vereinigten Staaten gibt es seit langem ein Netz an religiösen Fernseh- und Radiostationen. Entsprechend ist der Bedarf an religiösen Filmen. In Europa finanzierte der deutsche Medienunternehmer Leo Kirch in den 90er Jahren eine grosse Bibelreihe. Die Filme kamen jedoch nicht ins Kino, "weil bei uns ein solcher Markt nicht besteht", so Sennhauser. Die Filme wurden vielmehr für den Heimmarkt produziert, also für Video, und auch an Fernsehstationen verkauft. Noch eine zweite Beobachtung macht der Filmspezialist. Am diesjährigen Filmfestival in Locarno wurden zwei Filme gezeigt, welche die besondere Sympathie des Publikums gefunden haben. Wie in "Just a Kiss" habe Religion in diesen Filmen lediglich eine sekundäre Bedeutung, meint Sennhauser. In "Private" thematisiert der italienische Regisseur Saverio Costanzo den israelisch-palästinensischen Konflikt. Israelische Soldaten terrorisieren eine palästinensische Familie, um sie aus einem Haus zu vertreiben. Dieser Konflikt wird auch in der Komödie "Seres Queridos" aufgegriffen, in der das Paar Dominic Harari und Teresa De Pelegri gemeinsam Regie führte: Die Tochter jüdischer Eltern will ausgerechnet einen israelischen Palästinenser, also einen Muslimen, heiraten. In diesen Filmen würden interkulturelle Probleme verarbeitet. "Das sind brennende Fragen. Es liegt auf der Hand, dass sich engagierte Filmemacher damit auseinandersetzen", bemerkt Sennhauser. Im schottischen Streifen "Just a Kiss" werde nicht Kritik an der Religion, sondern an einer konservativen Kirche geübt. Im Film werden auch konservative islamische Verantwortungsträger zitiert. Im Kinofilm habe vor zehn Jahren die Tendenz eingesetzt, bei der Schilderung einer Kultur auch die Religion zu berücksichtigten. Zurückzuführen sei dies wohl auf eine Sensibilisierung für religiöse Situationen, die durch die wachsende weltweite Migration ausgelöst wurde. Sind die diesjährigen Filme, die die Religion zum Thema machten, gesellschaftlich von Bedeutung? Ja, sagt Sennhauser, indem sie zum Beispiel Missstände in den Religionsgemeinschaften an die Öffentlichkeit bringen. Aber diese Gemeinschaften müssten sich dann mit der geäusserten Kritik auch auseinandersetzen. Es sei aber zu berücksichtigen, dass kaum einer dieser Filme es unter die 30 besten des Jahres schaffen werde - ausgenommen "The Passion" von Mel Gibson. Die Produktion des Filmes kostete rund 30 Millionen Dollar, eingespielt hat er allein in den USA bis zum Zeitpunkt, als er Anfang Sommer aus den Kinos genommen wurde, 370 Millionen Dollar. Auch in Europa ist "The Passion" auf Erfolgskurs. Frankreich verzeichnete 1,6 Millionen Eintritte, Deutschland 800.000, Italien 3,4 Millionen und die Schweiz 194.000. (Zum Vergleich: "Harry Potter 3" verbuchte in der Schweiz 597.000 Eintritte.) "Die meisten Verleiher in der Schweiz schätzen sich glücklich, wenn sie mit einem US-Film die Hunderttausender-Grenze erreichen", ergänzt Sennhauser. Der Spanier Pedro Aldomovar könnte es mit seinem Film über den pädophilen Priester in der europäischen Hitliste auf einen guten Platz schaffen, weil er auf dem Kontinent zu den besten seines Faches gerechnet werde. "Ich glaube aber", meint Sennhauser, "ein Film, der sich auf ein religiöses Thema beschränkt, findet in Europa nicht das grosse Publikum." Den Erfolg von "The Passion" begründet Sennhauser unter anderem mit dem Antisemitismus-Vorwurf, der den Film auf die Frontseiten der Zeitungen gebracht hatte.Europas Publikum entdeckt
Religion erhält mehr Raum.
Kaum die grossen Renner ausser „Passion“
Datum: 01.10.2004
Quelle: Kipa