Anne H.

«Gott hat mir ein starkes Fundament gegeben»

Als 14-jähriges Mädchen hat sich Anne H. in einen Jungen aus Tschernobyl verliebt. Mit 19 Jahren heiraten sie, aber dann folgt eine Krise der andern: Autounfall des Ehemannes, Scheidung, Leukämie – wie Schicksalsschläge die Seele stärken können
Leukaemie
Hanna
Annes kleine Tochter

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Hoffnung für die Kinder von Tschernobyl hiess die Aktion, mit der Jugendliche aus Weissrussland in die Schweiz kamen. Für drei Wochen zur Erholung. Ich war damals 14, Sascha zwei Jahre älter. Ich sah ihn in der Badi und sagte zu meiner Kollegin. «Wow, der gefällt mir!» «Also komm.» Wir sprangen zu den Gästen ins Wasser und spielten mit ihnen. Ich war ganz gefesselt, sah immer nur den einen Jungen. Er sah mich auch. Aber wir konnten nicht reden. Am Abend war Disco. Ich durfte auch hin.

Sascha tanzte mit mir. Ich war völlig aus dem Häuschen. Seine Berührungen knisterten. Ich konnte nicht fassen, was mit mir geschah. Nie hätte ich gedacht, dass ich für diese Jungs interessant sein könnte. Aber Sascha liess sich auf mich ein. Urplötzlich öffnete sich mir ein neuer Horizont. Ein Junge, ein fremder Junge, aus einem fernen Land zeigte mir seine Liebe. Wir tauschten die Adressen. Ich schrieb ihm. Immer wieder. Er schrieb zurück. Ich begann Russisch zu lernen.

Drei Jahre später sass ich allein im Flugzeug und wusste: «Dort wartet jemand, der mich liebt». Ein junger Mann hatte drei Jahre lang auf mich gewartet. Ich war sehr nervös. Sascha holte mich am Flughafen ab und brachte mich zu seiner Familie. Ich schwebte drei Wochen lang im siebten Himmel. Sascha. Sascha. Nur noch Sascha. Alle im Dorf wussten von uns. Ich war das Mädchen aus der Schweiz! Ich war Mittelpunkt des Geschehens. Ich war völlig verliebt.

Der Abschied war schmerzhaft. Daheim die Hölle. Die einen sagten: «Die spinnt!», andere bewunderten mich. Aber ich war innerlich sehr einsam. Aus Angst, nicht verstanden oder gar von jemandem zum Abbruch meines Experiments überredet zu werden, liess ich mich auf keine engeren Beziehungen ein, weder zu Jungs noch zu Mädchen. Ich blieb viel daheim, damit keine andere Liebe aufkeimen konnte als die zwischen mir und Sascha.

Erst viel später erlebte ich, wie wichtig und wertvoll Freunde sind. In der Schule war ich gut. Ich kam in die Kanti. Doch dieser Weg dauerte mir zu lang. Ich wollte zu Sascha. Ich wollte heiraten. Deshalb wechselte ich an die DMS, die Diplommittelschule. Ein Jahr später, 1998, besuchte ich Sascha zum zweiten Mal. Wieder diese schmerzvolle Trennung. Ich wollte auswandern, für immer bei Sascha sein.

Doch Sascha entschied sich plötzlich anders. Niemand wusste so richtig warum. Es war wohl die Angst vor der Verantwortung. Für einige Monate war unsere Zukunft ungewiss. Doch dann, im September 1999 reiste ich zu ihm. Wir bereiteten die Hochzeit vor. Danach flogen wir für drei Monate in die Schweiz. Wir arbeiteten beide, denn wir brauchten Geld für unser grosses Fest.

Irgendwann entschieden wir, in der Schweiz zu leben. Für die Hochzeitsfeier flogen wir zurück in Saschas Heimat. Aus der Schweiz kam niemand mit. Ich war 19.

Zurück in der Schweiz wurde es bald schwierig. Ich war sehr eifersüchtig und band Sascha ganz an mich. Ich hatte ausser ihm kaum Freunde, denn ich liess niemanden an mich heran. Seit Jahren war ich ganz auf Sascha fixiert. Er liess meine Einengung zu. Jedenfalls solange er unsere Sprache nicht richtig konnte. Ich lernte Pflegefachfrau HF. Sascha besuchte Intensivkurse Deutsch. Er entfernte sich zunehmend von mir.

Unser Traum wurde bald zum Alptraum, zu einer leidvollen Geschichte voller Nähe und Distanz, voller Liebe und Neid. Sascha blieb oft lange weg.

In dieser Zeit suchte ich vermehrt Kontakte. Ich ging auch wieder in die Kirche. Es entstanden Freundschaften, die mich durch die schwierige Zeit begleiteten. Ich nahm Seelsorge und psychologische Hilfe in Anspruch. Der Glaube an Jesus Christus wurde mir schrittweise zu einem starken Fundament.

Ich spürte, dass ich viele Fehler gemacht hatte. Ich erkannte Schwächen in meiner Persönlichkeit. Viel zu lange hatte ich in einer grossen Illusion gelebt. Alles hatte sich um Sascha und unseren Liebestraum gedreht. Irgendwie hatte ich meine Jugendjahre verpasst. Und nun? Was war mir vom grossen Traum geblieben?

Sascha war oft weg, irgendwo unterwegs. Er beschloss, sich von mir zu trennen. Ich hoffte, dass alles wieder gut kommen werde. Doch dann erfuhr ich, dass eine junge Frau von ihm schwanger sei. Meine Welt brach zusammen. So vieles war in unserem gemeinsamen Leben schiefgelaufen. Sascha war eine guter, netter Junge gewesen. Weshalb musste es so weit kommen? Nun wollte auch ich die Trennung.

Ein Autounfall. Sascha überlebt einen schweren Autounfall. Er kam zu mir und fragte: «Warum habe ich überlebt? Warum?» Er glaubte, Gott habe ihn bewahrt und wollte nun auch auf Gott vertrauen. Ich war sehr glücklich. Aber es veränderte sich nicht viel. Unser Leben blieb ein Kreislauf: Hoffnung. Illusion. Liebe, Frust, Trennung, Nähe...

Manchmal siegte die Liebe. Manchmal war Sascha wieder bei mir. In einer solchen Zeit wurde ich schwanger. Sascha musste eine Strafe absitzen. Im Gefängnis sah er seine Tochter zum ersten Mal. Unsere Liebe war gescheitert. Sie brauchte eine Entscheidung. Ich brauchte eine Entscheidung, für mich und von Sascha. Er wollte sich nicht entscheiden, blieb unverbindlich und unentschlossen. Wir sind geschieden.

Ich wusste nicht, was Leben bedeutet und hatte schon ein Kind. Lange haderte ich, wollte einfach nicht glauben, dass ich nun Mutter war. Ohne Mann. Alleinerziehend. 24 Jahre alt. Immer wieder dachte ich: «Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr!»

Sascha wollte uns wieder einmal sehen. Dafür bekam er einige Stunden Hafturlaub. Wir reisten zu ihm. Ich hatte kürzlich in der Nähe von Bern eine neue Heimat für mich und meine Tochter gefunden. Mitten in der Nacht standen plötzlich Polizisten vor unserer Haustür. Sie suchen Sascha. Er sei nicht zurückgekehrt ins Gefängnis. Man fand Sascha nirgends. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.

Wie ich das alles geschafft habe? Es war der Glaube. Das Vertrauen, dass Gott mich dennoch liebt, gab mir viel Kraft. Auch die Gewissheit, dass Jesus Christus Schuld vergibt. Und es waren meine Freunde, die mit mir gingen und mich mit allen meinen Schwächen und Fehlern nicht hängen liessen.

Ich fühlte mich oft erschöpft. Das Leben hatte viel von mir gefordert. Aber nun war jeder Tag zu einem Kampf geworden. Etwas stimmte einfach nicht. Der Arzt nahm mir Blut. Falten in der Stirn. Intensiver Austausch mit seiner Praxiskollegin. «Sie sollten noch heute ins Inselspital. Es muss genau abgeklärt werden.» Bereits am Abend die vorläufige Diagnose: akute myeloische Leukämie.

Ich musste bleiben. Die Chemo begann sofort. «Wir müssen Sie drei Monate lang stationär  behandeln. Sie dürfen das Zimmer nicht verlassen.» Es fühlte sich an, wie wenn ein Zug über mich hinwegfahren würde. Nun war die letzte Kraft weg. «Ich kann nicht mehr!» Alles schien so furchtbar sinnlos. Ich konnte nicht mehr beten. Gott schien weit weg zu sein. Schreckliche Angst überfiel mich immer wieder. Sie griff mich an, wie ein wildes Tier seine Beute packt.

Meine Freunde sorgten liebevoll für mich. Jeden Tag besuchte mich jemand. Sie beteten für mich. Sie sorgten für meine Tochter. Die Chemo war schrecklich. Sie führte einen harten Kampf gegen alle meine Zellen im Blut. Das Immunsystem war ausgeschaltet. Infektionen. Ich landete auf der Intensivstation. Nach einem Monat durfte ich für eine Woche heim. Alles schien mir so fremd, so weit weg. Ich kam wie aus einer anderen Welt. Im vergangenen Monat wurde alles für mich und vieles mit mir gemacht.

Es folgte die zweite Staffel. Diesmal war ich nicht mehr so hilflos meinen Ängsten ausgeliefert. Ich vertraute auf Gott. Ich kämpfte. Ich wies die Angst in Schranken, wenn sie mich überfallen wollte. Gott hatte am Ende der ersten Behandlungsphase zu mir gesprochen. In einem Traum hatte er zu mir gesagt: «Ich habe dir ein starkes Fundament gegeben!» Ich sah das Kreuz – Jesus! Er war mein Fundament. Er ist mein Fundament. Es gibt begründete Ängste. Es gibt Ängste, die mit unserer Vergangenheit zu tun haben.

Aber diese Angst, die mich so plötzlich ansprang, war vom Bösen. Mir wurde bewusst, dass ich dieser Angst nicht wehrlos ausgeliefert bin. Auch dann, wenn niemand da war, der mir beistehen konnte, war ich nicht allein. Gott hatte mir ein starkes Fundament gegeben! Dieses nahm ich nun in Anspruch. So konnte ich die zweite und dritte Behandlung viel bewusster durchleben. Ich hatte die Gewissheit: Jesus ist grösser. Immer! Er ist immer grösser.

Ich musste auch entscheiden, welchen Weg der Behandlung ich gehen soll. Einfach war es nicht. Doch ich fand Gewissheit und die Gespräche mit den Ärzten bestätigten meine innere Sicherheit. Ein Wort aus der Bibel gab mir immer wieder Kraft: «... Ich, der Herr, bin bei dir, wohin du auch gehst.» Diese Worte habe ich mit Schablonen an meine Wohnzimmerwand geschrieben. Ich darf schwach sein. Gott ist stark. Er geht mit mir. Er begleitet mich – auf jedem Weg!

Meine Blutzellen sind wieder gewachsen. Meine Haare auch. Langsam! Ich kann arbeiten. Ich bin gesund. Der Kampf war intensiv. Ich bin so dankbar über mein neues Leben. Manchmal sage ich zu  meinen Spitexpatienten: «Es ist Gnade, dass ich lebe und Sie pflegen kann.»

Diesen Artikel hat uns TextLive zur Verfügung gestellt.

Datum: 05.02.2012
Quelle: Textlive

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