Zürcher Kirchenrat verharmlost Irene Gysels Kritik
Kirchenrätin Irene Gysel sagte am 30. März vor dem Kirchenparlament im Zürcher Rathaus, Gott wolle und brauche kein Opfer, um gnädig zu sein. Gewalt – wie sie im Gibson-Film zelebriert werde – könne niemals Grundlage von Erlösung sein. Die Deutung von Jesu Tod als Opfer, wie sie in der ‚Opfertheologie’ zum Ausdruck komme, sei aus reformierter Sicht überholt. Der Film ignoriere „die theologischen Erkenntnisse der letzten mindestens 300 Jahre“.
Viele engagierte Kirchenglieder waren tief verärgert, fanden sich in der Mitte ihres Glaubens getroffen. „Sollen wir unter diesen Umständen Karfreitag und Ostern absagen???“ war in einem Mail zu lesen. Die Kirchenleitung erhielt eine Flut von Anrufen und Briefen. Die Evangelische Allianz Winterthur schrieb dem Kirchenrat, damit sei der Kern der biblisch-christlichen Botschaft angetastet, und fragte, ob sich die evangelische Kirche von der Bibel verabschiedet habe.
‚Stein des Anstosses beseitigt’
Der Zürcher Oberländer brachte am Mittwoch über vier Spalten Leserbriefe unter dem Haupttitel: „Hat sich Jesus nicht geopfert?“. Die Schweizerische Evangelische Allianz SEA verlieh Frau Gysel den „Osterhasen des Jahres“, da sie allen evangelischen Christen einen Osterhasendienst getan habe. Im Brief an die Kirchenrätin schreibt die SEA: „Sie haben den Stein des Anstosses, den stellvertretenden Opfertod von Jesus Christus am Kreuz, beseitigt und damit den Weg für den kommerziell schon lange mitlaufenden Osterhasen weiter geebnet.“
Dass die Medien die persönliche Erklärung von Frau Gysel stark verkürzt und fälschlicherweise (wie der Kirchenrat später sagte) als Meinung des Kirchenrats dargestellt hätten, stimmt so nicht: Auch in der ersten Fassung des Berichts des Kirchlichen Informationsdienstes, der im Internet zu lesen war, wurde Frau Gysels Statement als „Stellungnahme des Kirchenrates“ eingeführt!
Nicht offizielle Stellungnahme, sondern persönliche Erklärung
Die Medien nahmen die Kritik des umstrittenen Films (Angehörige der religiös-sozialen Synodefraktion reagierten mit Applaus) für bare Münze. Irene Gysel, die beim Schweizer Fernsehen als Redaktorin für die Religions-Sendung ‚Sternstunde’ tätig ist, erweckte den Eindruck, als hätte sich die reformierte Theologie seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vom Opfer-Gedanken verabschiedet.
Allerdings – und dies unterstreicht der Kirchenrat in seiner Stellungnahme, die acht Tage auf sich warten liess – ist dies bloss ihre persönliche Überzeugung, nicht die offzielle Haltung der Kirchenleitung. Eine solche existiert generell nicht: „Der Kirchenrat hält fest, dass es in der reformierten Kirche kein Lehramt gibt, das theologische Aussagen vorschreibt oder ‚verabschiedet’. Es gehört vielmehr zum Charakter unserer reformierten Volkskirche, dass in ihr eine Vielfalt theologischer Deutungen und Interpretationen möglich sind.“ Der Gossauer Pfarrer Daniel von Orelli drückte es in seinem Leserbrief so aus: „Die Reformierten haben keine kirchliche Hierarchie, die autoritativ eine verbindliche Glaubenslehre festlegen könnte.“
Leiden und Tod von Jesus deuten – wie deuten?
Es gibt in Zwinglis Kirche weder ein Lehramt noch ein Bekenntnis (auch nicht das weltweit verbreitete Zweite Helvetische Bekenntnis, verfasst vom zweiten Reformator Heinrich Bullinger, dessen 500. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird). In den ersten Artikeln der Zürcher Kirchenordnung ist allerdings von Jesus Christus als dem „Herrn und Erlöser der Welt“ die Rede und dass die Landeskirche „mit ihren Gliedern allein auf das Evangelium von Jesus Christus verpflichtet ist“.
Der Kirchenrat schreibt: „Die reformierte Kirche hält sich darum an die biblischen Aussagen über den Leidensweg, den Tod und die Auferstehung von Jesus Christus.“ Bezeichnenderweise folgt ein Aber: die Aussage nämlich, dass „das Leben und der Tod von Jesus am Kreuz schon in der Bibel selber mit unterschiedlichen Akzenten und Bildern gedeutet wird“. Daraus ergibt sich laut dem Kirchenrat „die Aufgabe, die Passion Jesu immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und so ihren tiefen, inneren Sinn zu erschliessen“. (Dass Gysel die traditionelle Deutung als überholt abqualifizierte, wird nicht thematisiert.)
Opfertod: nur ‚theologische Tradition’?
Jesu Tod wurde als Opfer von Gott angenommen, um die Schuld der Menschen zu tilgen und sie mit ihrem Schöpfer zu versöhnen – diese zentrale Aussage des Christentums findet sich in allen Teilen des Neuen Testaments (Markus 10,45; Johannes 1,29; Römer 3,25; 5,9; 1. Petrus 1,19 – siehe unten). Vom Kirchenrat wird der „Opfercharakter von Jesu Tod“ kühl als „eine biblische Deutungsweise“ und als eine „theologische Tradition“ bezeichnet, mit der man sich auseinanderzusetzen habe.
Die Aussagen von Frau Gysel werden vom Kirchenrat nicht kritisiert, als ginge ihm das Empfinden dafür ab, dass sein (für Seelsorge zuständiges) Mitglied ohne Not viel Geschirr zerschlagen hat. Es heisst bloss: „Der Kirchenrat bedauert es, dass die Berichterstattung über die Kirchensynode Irritationen ausgelöst und einzelne Kirchenmitglieder in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt hat.“ – Ob sich die Angesprochenen damit zufrieden geben?
Stellungnahme des Zürcher Kirchenrats im Internet: http://zh.ref.ch/content/e7/e93/e395/nl_letters5017/index_ger.html
Die Bibel zum Tod von Jesus Christus
(Zürcher Bibelübersetzung)
Jesaja 53,5.6.12
Und er war doch durchbohrt um unsrer Sünden,
zerschlagen um unsrer Verschuldungen willen;
die Strafe lag auf ihm zu unserem Heil,
und durch seine Wunden sind wir genesen.
Wir alle irrten umher wie Schafe,
wir gingen jeder seinen eignen Weg;
ihn aber liess der Herr treffen unser aller Schuld.
Darum soll er erben unter den Grossen,
und mit Starken soll er Beute teilen,
dafür dass er sein Leben in den Tod dahingab
und unter die Übeltäter gezählt ward,
da er doch die Sünde der Vielen trug
und für die Schuldigen eintrat.
Markus 10,45
Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen,
damit ihm gedient werde,
sondern damit er diene und sein Leben gebe
als Lösegeld für viele.
Johannes 1,29
Am folgenden Tag sieht Johannes der Täufer Jesus auf sich zukommen und sagt:
Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!
Römer 3,25
Ihn hat Gott hingestellt als ein Sühnopfer durch den Glauben in seinem Blut
zur Erweisung seiner Gerechtigkeit.
Römer 5,8-10
Gott beweist seine Liebe gegen uns dadurch,
dass Christus für uns gestorben ist,
als wir noch Sünder waren.
Um so viel mehr nun werden wir,
da wir jetzt durch sein Blut gerechtgesprochen worden sind,
durch ihn vor dem Zorn gerettet werden.
Denn wenn wir mit Gott,
als wir seine Feinde waren,
versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes,
so werden wir um so viel mehr,
da wir nun versöhnt sind,
gerettet werden durch sein Leben.
1. Petrus 1,18-21
Ihr wisst ja, dass ihr nicht mit vergänglichen Dingen,
mit Silber oder Gold,
losgekauft worden seid von eurem nichtigen Wandel,
der euch von den Vätern her überliefert war,
sondern mit dem kostbaren Blute Christi als eines untadeligen und unbefleckten Lammes,
welcher vor Grundlegung der Welt zum voraus ersehen war,
am Ende der Zeiten aber geoffenbart wurde um euretwillen,
die ihr durch ihn an Gott glaubt,
der ihn von den Toten auferweckt hat.
Datum: 09.04.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch