Serbien wohin?

Zoran Djindjic

Die Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic wirft ein grelles Schlaglicht auf die Dreistigkeit der Unterweltbosse auf dem Balkan. Zur Zeit von Slobodan Milosevic konnten manche serbische Gangsterbanden ihre Geschäfte treiben, ohne von Polizei und Justiz behelligt zu werden. Der Reformer Djindjic, der die Serben aus dieser düsteren Epoche herausführen wollte, ist ihr prominentestes, aber bei weitem nicht ihr einziges Opfer.

Die Gewalt in Serbien hat tiefe geschichtliche Wurzeln und auch religiöse Hintergründe. Im 19. Jahrhundert kämpften die beiden Fürstengeschlechter der Karadjordjevic und der Obrenovic jahrzehntelang mit List und Gewalt um den serbischen Thron. Das Attentat auf den österreichischen Kronprinzen 1914 in Sarajevo führte zum Ersten Weltkrieg. Im jugoslawischen Staat, der danach entstand, spielten die Serben die Herren und unterdrückten die Nachbarvölker, was die kroatischen Nationalisten in die Hände der Faschisten trieb.

Von Tito zu Milosevic

Der erfolgreiche Partisanenführer Tito schwang sich 1945 zum Diktator auf und überlebte auch die ideologische Trennung von Stalin. Er suchte die Dominanz der Serben, des grössten südslawischen Volks, mit der Abtrennung Mazedoniens und der Autonomie für die Randgebiete Vojvodina und Kosovo zu schwächen.

Nach Titos Tod 1980 brach sich in Serbien eine heftige Gegenbewegung Bahn. Milosevic instrumentalisierte die nationalistischen Emotionen, um alle Serben – und jedes Stück Boden, wo angeblich Serben begraben liegen – in einem Staat zu vereinen. Die katastrophalen Folgen für den Balkan sind bekannt. Milizen und Banden, die sich nationalistisch gebärdeten und seine Macht nicht antasteten, liess Milosevic gewähren.

Männlichkeitsideal im Befreiungskampf gehärtet

Doch die Gewaltbereitschaft unter serbischen Männern hat tiefere sozialpsychologische und geschichtliche Wurzeln. Das Volk der Serben litt während vier Jahrhunderten unter der türkischen Oberherrschaft. Zahlreiche Versuche, die muslimischen Herren aus dem Balkan zu vertreiben, scheiterten.

Die Heerführer der Osmanen nahmen regelmässig fürchterliche Rache an aufrührerischen Serben und verwüsteten ganze Regionen. Aus Angst vor Vergeltung flohen im Jahr 1690 Zehntausende von Serben aus dem fruchtbaren Kosovo nach Norden – in ihren Dörfern siedelten sich Albaner an.

In der südserbischen Stadt Nis wurde ein Mahnmal, in das die Türken die Schädel von mehreren hundert getöteten serbischen Freiheitskämpfern hatten einmauern lassen, später zur Pilgerstätte, die das Nationalbewusstsein härtete. In der Türkenzeit prägte sich das serbische Männer-Ideal des hartnäckigen Kämpfers aus, der sich selbst nicht schont, nicht aufgibt und auch aus dem Hinterhalt zuschlägt.

Angeschlagene Nationalkirche an den Rand gedrängt

Die traditionalistische serbische orthodoxe Kirche hat bis heute keine eigene (kirchenamtlich gebilligte) Bibelübersetzung, sondern sucht ihr Leben aus der uralten Liturgie zu schöpfen. Die Ausstrahlung der Klöster, der früheren Zentren auch des kulturellen Lebens, verblasste; viele sind zerfallen oder zerstört worden; wenige wurden wieder aufgebaut. Die serbische Kirche hat sich im Zeitalter der grosskirchlichen Ökumene lange abgeschottet; ihre Leitung gehört zu den konservativsten der orthodoxen Kirchenfamilie.

Noch in jüngster Zeit haben Theologen der Kirche vom selbständigen Bibellesen abgeraten und evangelische Christen als Sektierer bezeichnet. Die evangelischen Gemeinden in Serbien fristen ein Randdasein. So konnte sich an der Bibel kein sittliches Bewusstsein als Gegengewicht zur Gewaltbereitschaft bilden.

Gesellschaft ohne Wertekonsens

Schon im 19. Jahrhundert hatte die Nationalkirche grosse Teile der serbischen Oberschicht verloren. Diese strebte nach Modernität und vergötzte den Fortschritt in Westeuropa, vor allem das säkulare Frankreich. Wie im übrigen Balkan tat sich auch in Serbien ein Riss auf zwischen Modernisierern und Traditionalisten, ein Abgrund, den die orthodoxe Kirche nicht überbrücken konnte, weil die meisten ihrer Führer die rechtgläubige Tradition über alles stellten.

So nahm auch die Kraft der Kirche ab, die Kinder zu bilden und die Sitten zu prägen. Der soziale Wandel beschleunigte sich nach 1941, in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Von Hitlers kroatischen Bewunderern, die mit den Deutschen in Serbien einfuhren, wurde die Orthodoxie schwer verfolgt; die Kommunisten drängten sie darauf ganz an den Rand der Gesellschaft. Die rote Ideologie schloss Gewalt ein. Titos Regime zerstörte die Reste christlicher Moral in einer forcierten Säkularisierung. So hat die orthodoxe Kirche der tiefeingewurzelten Gewaltbereitschaft in den letzten Jahrzehnten wenig entgegensetzen können.

Nationalistische Versuchung

Die meisten Serben heute bezeichnen sich wegen der nationalen Geschichte (die Kirche trug viel zum Überleben unter dem Türkenjoch bei) und ihrer Kultur als orthodox; mit dem christlichen Glauben haben sie gar nichts am Hut. Und die Kirche bestätigt im Volk die irrige Meinung, der Glaube erschöpfe sich im nationalen Bewusstsein: Die in Legenden verklärte Erinnerung an das goldene Zeitalter der Serben, das orthodoxe Grossreich des 14. Jahrhunderts, gibt den extremen Nationalisten bis heute Munition. Das zeigte sich auch, als orthodoxe Geistliche in den letzten Balkankriegen serbische Waffen segneten und zur Verteidigung des Kosovos um jeden Preis aufriefen.

‚Wir haben für Europa den Kopf hingehalten‘

Dabei fühlten sich die serbischen Nationalisten von der ganzen Welt missverstanden. Starrsinnig und in säkular verdrehter Form hielten sie am früheren orthodoxen Selbstverständnis der Serben fest. Über Jahrhunderte sahen sich nämlich die Serben als Hort des rechten christlichen Glaubens auf dem Balkan.

Als ihr Geburtsdatum kennt die serbische orthodoxe Kirche das Jahr 1218. Zuvor hatten der Papst in Rom und der orthodoxe Patriarch in Byzanz lange um die Seelen der Serben rivalisiert. Seit dem 5. Jahrhundert war die kirchliche ‚Zugehörigkeit‘ des Balkans zwischen Ost- und Westrom umstritten. Das eigenständige Volk, das weitab der Meere im Hügelland lebte, entzog sich den missionarischen Unterwerfungsversuchen.

Römische Arroganz

Die Arroganz des imperialistischen Papstes Innozenz III., der nach der Weltherrschaft strebte, mag schliesslich den Ausschlag gegen Rom gegeben haben: Zwei Jahre nach Innozenz‘ Ableben gründete der serbische Prinz Sava die Kirche seines Volks auf orthodoxer Basis. Byzanz hatte gewonnen.

Von diesem Punkt an verstanden sich die Serben als Verteidiger der Orthodoxie gegen Katholiken (Ungarn, Kroaten und Italiener), Häretiker (die bosnische Kirche im Mittelalter) und die muslimischen Türken und Albaner. Den Kampf gegen die Türken meinten sie stellvertretend für Europa zu führen, die Fremdherrschaft stellvertretend für die anderen Völker des Kontinents zu erleiden. Das Leiden des Volks wurde von orthodoxen Theologen sogar als nationale ‚Kreuzigung‘ überhöht.

Weiter Weg

In diesem Klima fanden und finden Appelle zur Verständigung mit den nicht-orthodoxen Nachbarvölkern und den nicht-slawischen Albanern wenig Gehör. – Unter Djindjic ist Serbien in den letzten Jahren aufgebrochen Richtung Europa. Der Weg ist noch weit.

Datum: 15.03.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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