Die Solidarität mit den Armen und Schwachen sollte uns mehr und mehr beschäftigen. Einerseits, weil die Bibel uns klar zur Solidarität aufruft, andererseits, weil sich die Schere zwischen arm und reich sowohl innerhalb der Schweiz und in allen westlichen Ländern, als auch zwischen Industrieländern und den Ländern des Südens immer mehr öffnet. Parallel dazu wird die Solidarität in der Gesellschaft aus ideologischen Gründen zunehmend abgelehnt. In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf die Frage der Armut und Solidarität in der Schweiz. Natürlich können wir die Armut von heute nicht mit der Armut aus dem 18. Jahrhundert oder aus biblischen Zeiten vergleichen. Hunger leidet hierzulande kaum jemand. Aber Armut als Not, als ständige Angst, nicht mehr „durchzukommen“, ist auch in der Schweiz verbreitet. Das Bundesamt für Statistik schreibt, dass etwa 10% der Schweizer Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Diese bemisst sich auf 2200 Franken verfügbaren Einkommens für eine Einzelperson und 4300 Franken für eine Familie mit zwei Kindern. Ein grosser Teil dieser Armen sind die sogenannten „Working Poor“. Das Bundesamt für Statistik hat errechnet, dass 6,5% der Erwerbstätigen im Alter von 20 bis 59 Jahren zur Gruppe der Working Poor gehören. Bei Familien mit zwei Kindern liegt die Working Poor-Quote bei 9%, bei drei oder mehr Kindern bei 16%, bei Alleinerziehenden gar bei 19%. Die Familien-Armut ist heute ein grösseres Problem geworden als die Alters-Armut. Dies zum Teil auf Grund der in den neunziger Jahren gesunkenen Löhne im untersten Bereich (ein Lohn alleine genügt nicht mehr), aber auch, weil gerade in diesem Bereich nicht beide Elternteile arbeiten können, weil sie die Kinderbetreuungsmöglichkeiten gar nicht finanzieren könnten. Viele dieser Working Poor sind allerdings auch nur teilzeitbeschäftigt. Dies, weil sie entweder nicht mehr Arbeit finden oder wegen Betreuungsaufgaben nicht mehr arbeiten können. Die Zahl der Armen und der Working Poor nimmt seit den neunziger Jahren ständig zu, und das verfügbare Einkommen der 10% ärmsten Haushalte hat zwischen 1991 und 1998 um 19% abgenommen. Und dies trotz steigendem Volkseinkommen. Am anderen Ende der Tabelle hat sich das Vermögen des reichsten Prozentes unserer Bevölkerung seit Anfang der neunziger Jahre verdoppelt, und das verfügbare Einkommen der reichsten 10% der Haushalte hat um 12% zugenommen. Armut bewirkt oft gerade durch materielle Not den sozialen Ausschluss. Arme haben wegen Schamgefühlen weniger soziale Kontakte, sie sind auch von kulturellen Aktivitäten ausgeschlossen. Die Kinder haben viel häufiger schulische Probleme und werden häufiger krank. Armut ist somit auch vererbbar. Schliesslich sterben Arme im Durchschnitt zwischen vier und sechs Jahre früher. Abhilfe kann man auf verschiedene Arten schaffen: gerechte Löhne, Zuschüsse für arme Familien mit Kindern, Lohnersatz bei Mutterschaft, Chancengleichheit bei der Bildung und verstärkte Bildungsanstrengungen. Untauglich scheint mir hingegen gerade das vom Bund beschlossene und bald zur Abstimmung kommende Steuer-Entlastungspaket. Die beschlossenen Steuererleichterungen erreichen gerade die bedürftigsten Familien praktisch nicht. Wirtschaftswachstum ist nur dann ein taugliches Mittel gegen Armut, wenn die zur Wirtschaftsförderung getroffenen Massnahmen nicht wieder die Armen schlechter stellen (Abbau von Schutz), und nur wenn das Wirtschaftswachstum auch von geeigneten Umverteilungsmechanismen begleitet ist, wie eine Weltbankstudie von Lindbergh u.a. nachweist. Das Thema Solidarität nimmt in der Bibel einen erstaunlich breiten Raum ein. Zentral ist dabei der Begriff der Armen. Er wird einerseits für die materielle Armut und für Unterdrückung (auch „Elende, Geringe“ etc.), aber auch für geistlich Arme, das heisst Demütige, gebraucht. Ich befasse mich hier nur mit den zwei ersten Anwendungen. Wie werden die Armen in der Bibel betrachtet? Welche Schuld haben sie an ihrer Situation? Die Stellen, wo Armut mit Selbstverschulden in Verbindung gebracht wird, sind rar. Sie finden sich nur im Buch der Sprüche und in der Aussage im Neuen Testament, wer nicht arbeiten wolle, solle auch nicht essen. Ansonsten wird Armut als gesellschaftliches Übel, oft in Verbindung mit sozialer Benachteiligung oder Unterdrückung, beschrieben. Natürlich kann man deshalb nicht sagen, dass die Armen heute generell unschuldig an ihrer Situation sind, aber ich sehe gewisse Parallelen. Deshalb ist das Alte wie das Neue Testament voll von Aufrufen, die Armen zu schützen (physisch und rechtlich) und mit ihnen zu teilen. Als Beispiele lesen wir in 5. Mose 15,7-11, wir sollen „dem Armen die Hand grosszügig öffnen“. Und in Sprüche 21,13 gar: „Wer Ohren verstopft vor dem Hilfeschrei der Geringen, der wird einst rufen und keine Antwort erhalten.“ Jesus erklärt den Jüngern auch, wonach gerichtet werden wird: Ich war hungrig, und ihr habt mir zu Essen gegeben (Matthäus 25). Almosen werden in der Bibel allgemein als gut angesehen. Es gab im alten Testament aber auch gesetzlich geregelte Umverteilung: - Der Zehnte diente auch zur Armutslinderung Die verschiedenen Verfasser des Alten Testaments forderten auch dazu auf, die Armen und Geringen zu schützen und ihnen Recht zu verschaffen. Denn nur zu oft versuchten die Starken, die Rechte der Armen zu ignorieren oder beugten ungerechte Richter die Sache der Armen. Damals (wie heute) war Armut auch oft mit Machtlosigkeit verknüpft. Vor allem die Propheten gingen hart mit den Israeliten ins Gericht, wenn diese trotz Reichtum die Armen im Elend liessen oder deren Rechte beugten. Die Bibel fordert uns denn auch auf, die Armen und Geringen als gleichwertige Menschen zu behandeln und uns für deren Rechte und soziale Gerechtigkeit einzusetzen. So zum Beispiel in Psalm 82,3-4: „Schafft Recht dem Geringen und der Waisen, dem Elenden und dem Bedürftigen lasst Gerechtigkeit widerfahren! Rettet den Geringen und den Armen, entreisst ihn der Hand der Gottlosen.“ Wir haben gesehen, dass dem Teilen besondere Bedeutung zukommt, da der Armut offenbar auch strukturelle Ursachen zu Grunde liegen. Aber wie denn teilen? Die Urchristen der Jerusalemer Gemeinde teilten praktisch alles. Dies könnte als Modell dienen, ist deswegen aber noch kein „Muss“. Teilen wir, so viel wir teilen können – und nicht nur von unserem Überfluss. Dies zeigt uns die Geschichte von der armen Witwe im Tempel in Markus 12. Tendenziell führt uns dies zu einem einfacheren Lebensstil. Es heisst auch, man solle „arbeiten, damit man den Armen geben könne“. Behalten wir also unser gutes Einkommen nicht für uns alleine. Eigentum ist in der Bibel sozialpflichtig. Aber wir müssen auch nicht arm werden. Gott ermuntert uns zu einer Haltung der Grosszügigkeit und der Zufriedenheit mit dem, was wir haben. Ich glaube, dass echte Solidarität und Nächstenliebe nur gelebt werden kann, wenn wir selber frei sind von unseren eigenen Ängsten um unser täglich Brot, wenn wir in allen unseren Bedürfnissen vollständig von unserem himmlischen Vater getragen werden. Dann wird Solidarität zur Freude und geschieht nicht einfach aus Schuldgefühlen. Wie wir in der Bibel sehen, ist manchmal auch gesetzlich verordnete, organisierte Umverteilung angesagt, denn offensichtlich sind die Armen Gott zu wichtig, als dass er deren Wohlergehen der reinen Freiwilligkeit der Spender überlassen würde. Solidarität auch, einen Teil unserer Zeit dem Nächsten zu verschenken, da zu sein, wenn wir gebraucht werden. Dieses Teilen fällt uns manchmal schwerer als das materielle Teilen ... Die Gesellschaften in allen Ländern der westlichen Welt scheinen heute aber trotz (oder gerade wegen?) zunehmender Armut auf der einen und zunehmendem Reichtum auf der anderen Seite ein wachsendes Problem mit dem Teilen zu haben. Es besteht eine allgemeine Tendenz der Desolidarisierung. Nachdem ein Teil der Solidarität von den Familien an die Institutionen delegiert worden ist, werden diese Institutionen selber nun auch in Frage gestellt. Manche meinen, dadurch komme die persönlichere, familiäre Solidarität wieder zurück. Dies ist aber wohl eine Illusion, denn erstens verlangt das heutige Arbeitsleben eine so hohe Mobilität, dass die früheren familiären Zusammenhänge nicht mehr zurückzuholen sind. Zudem würde mit Reduktion oder Abschaffung der Institutionen ebenfalls die gerechte interfamiliäre, gesamtgesellschaftliche Solidarität abgeschafft. Denn noch immer ist es eine Tatsache, dass Reichtum und Armut nur selten innerhalb derselben Familien vorkommen. Sichtbar ist die Desolidarisierung auch im Wertewandel: Untersuchungen zeigen die zunehmende Beliebtheit des Begriffes „Freiheit“ gegenüber dem Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“. Der Staat als Umverteiler ist auch deshalb immer mehr unter Beschuss. Meines Erachtens beruht dieser Wertewandel unter anderem auf den folgenden drei Faktoren, die in gegenseitiger Abhängigkeit stehen: 1. Zunehmender Individualismus: die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen wird mit dem zunehmenden Wohlstand und den daraus resultierenden Lebens-Gestaltungsmöglichkeiten immer kleiner. Die Interdependenz (und damit die Notwendigkeit der gemeinsamen Organisation) wird nicht mehr wahrgenommen. 2. Angst vor Verlust: Der wachsende Wohlstand hat auch die Angst vor Verlust immer stärker werden lassen. 3. Wirtschaftlicher Wachstum: Diese Angst erzeugt eine immer grössere Priorisierung des wirtschaftlichen Wachstums, was einen Übergriff des wirtschaftlichen Denkens auf alle gesellschaftlichen Bereiche nach sich zieht. Diese Desolidarisierung wird von Rechtfertigungsideologien und beliebten Mythen begleitet, die wir ohne böse Hintergedanken nur allzu gerne glauben, weil sie unser Leben einfacher machen: 1. "Jeder kann alles selber“. Die Unterschiedlichkeiten in Fähigkeiten, Herkunft, Umständen, etc. zeigen genug, dass diese Behauptung der Realität nicht standhält. 2. Missbrauch: „Der Sozialstaat wird immer mehr missbraucht“. Eine um sich greifende Behauptung, die nicht belegt ist und eher unsere zunehmenden Ängste widerspiegelt. Die Angst vor Profiteuren ist in der Bibel nie so stark gewesen. 3. Abhängigkeit: „Der Sozialstaat hält die Armen und Arbeitslosen nur in Abhängigkeit, deshalb ist es für die Bedürftigen besser, man gibt ihnen gar nichts mehr“. Tatsache ist leider, dass es schlicht zu wenig Jobs gibt und viele Arbeitslose und Bedürftige in der heutigen Wirtschaft keinen Platz mehr finden. Die Arbeitswelt verlangt immer mehr Fertigkeiten und eine 100%-ige Leistungsfähigkeit. Es gibt aber eine Schicht von Menschen, die entweder die Fähigkeiten dazu kaum haben oder aus irgendwelchen Gründen nicht im Vollbesitz der Kräfte sind. Diese will kein Arbeitgeber, auch nicht in der Hochkonjunktur, denn in der heutigen Arbeitswelt sind nur noch die Leistungsfähigen gefragt. Dies ergibt die wachsende „Sockel-Arbeitslosigkeit“. Am Schluss landen viele davon Betroffene in der IV. Deshalb ist den meisten Betroffenen genauso wenig geholfen, wenn wir nichts mehr teilen, denn sie können zum grossen Teil nichts für ihre Situation. Klar ist, dass es neben Fürsorge und Arbeitslosengeld auch Förderungsmassnahmen braucht mit dem Ziel, sie wieder in der Arbeitswelt einzugliedern. Und einige brauchen einen gewissen Druck und spürbare Konsequenzen, wenn sie ihrer Eigenverantwortung nicht nachkommen. Wir haben aber kein Recht, deswegen alle Fürsorgebedürftigen mit der Kürzung der Solidarität zu bestrafen. 4. „Armut kann nur durch mehr Wachstum bekämpft werden“. Die westlichen Länder sind meines Erachtens so reich, dass theoretisch alle genügend haben könnten. Dies wäre also wiederum eine Frage des Teilens. In den westlichen Staaten ist eine zunehmende Angst vor dem Verlust der angehäuften Güter zu spüren. Dies bewirkt, dass die Angst vor Profiteuren, die auf unsere Kosten leben (und uns ärmer machen könnten), zunimmt. Genährt wird sie durch eine tatsächliche Zunahme der Zahl der Fürsorgeempfänger, Arbeitslosen und IV-Rentner, die meist auf Grund ihrer Leistungsunfähigkeit aus dem Arbeitsalltag ausgeschlossen worden sind. Die Angst bringt es mit sich, dass es vielen Menschen heute wichtiger ist, dass niemand profitieren kann, als dass niemand im Elend lebt. Die Sozialwerke sollen abgebaut – und damit wird die grosse Zahl der unschuldig Abhängigen genauso bestraft werden. Dies wird auch dort durchgezogen, wo es eigentlich klar sein müsste, dass die Betroffenen nichts dafür können: so wird auch bei armen AHV-Rentnern oder Schwerkranken Selbstverantwortung eingefordert und die Solidarität gekürzt. Wir sind drauf und dran, nicht einmal mehr die Chancengleichheit finanzieren zu wollen, obwohl wir sagen „Jeder kann alles selber“. So werden Stipendien für Kinder einkommensschwacher Eltern in mehr und mehr Kantonen abgeschafft. Es scheint mir, als ob die Schweiz sich mitten in einem Kulturkampf zwischen den Werten „Freiheit“ und „Solidarität“ befinden würde. Der Kampf wird zunehmend härter und mit mehr finanziellen Mitteln geführt, und von sogenannten Think Tanks (z.B. Avenir Suisse) unterstützt. Sämtliche bedürftige Gruppen (Arbeitslose, Fürsorgeempfänger, IV-Rentner, AHV-Empfänger, Kranke etc.) werden heute diffamiert, und Gruppen werden gegeneinander ausgespielt (arme Schweizer gegen „Ausländer, die alles erhalten“). Wie reagieren wir Christen darauf? Was denken wir über die Armen? Sind wir bereit, Solidarität als biblischen Wert hoch zu halten oder lassen wir uns auch vom Strudel der Angst erfassen? Wir und unsere Kirchen stehen vor grossen Herausforderungen. Autor: Markus Meury
Armut heute - in der Schweiz
Armut ist sozialer Ausschluss
Biblische Grundlagen
Umverteilung
- Alle 3 Jahre gingen 10% der Ernte an die Armen.
- Die Nachlese nach der Ernte war den Armen vorbehalten (3. Mose 19,10).
- Alle sieben Jahre blieb ein Feld unbestellt. Die Frucht gehörte den Armen (2. Mose 23,11).
- Alle 7 Jahre wurden die Schulden erlassen („damit kein Armer unter euch sei“, wie es in 5. Mose 14,4 heisst).
- Von den Angehörigen des eigenen Volkes durften keine Zinsen verlangt werden.
- Alle 50 Jahre (im so genannten Jubeljahr, 3. Mose 25,8-31) ging in der Not verkauftes Land an die ursprünglichen Besitzer zurück, um der strukturellen Ungerechtigkeit vorzubeugen und allen ein Auskommen zu ermöglichen, denn Landlosigkeit bedeutete den ersten Schritt in die Verarmung.Schutz und soziale Gerechtigkeit
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Aktuelle Tendenzen
Wertewandel
Mythen der Desolidarisierung
Ein Kulturkampf?
Datum: 26.01.2004
Quelle: Bausteine/VBG